«Vom Sinn des Ganzen» – Eine Doku über den Physiker Hans-Peter Dürr

Der Begriff «Querdenker» ist heute leider verbrannt. Die Leitmedien haben ihn durch permanentes Framing ins Gegenteil verkehrt, sodass er andere Assoziationen weckt als noch vor der Corona-Krise. Bis zu diesem Zeitpunkt galt jemand als Querdenker, der sich nicht an die üblichen Denkweisen hält. Ein solcher war der Physiker Hans-Peter Dürr. Für ihn gab es keine Materie, sondern bloß geronnenen Geist. Mit dieser These hat er sich in der Wissenschaft keine Freunde gemacht und wurde zum Außenseiter, der jedoch anders als viele Kollegen humanistische Ziele verfolgte. Wofür Dürr einstand und was ihn als Physiker bewegte, veranschaulicht eine neue Dokumentation, die erst kürzlich auf DVD erschienen ist.

Dass der gebürtige Schwabe zu einem beweglichen Denker wurde, liegt unter anderem an dem Umfeld, in dem er sich wissenschaftlich betätigte. Es war die Zeit, als die Physik ihre Unschuld verloren hatte. Noch während des Zweiten Weltkriegs arbeiteten mehrere renommierte Wissenschaftler daran, die kurz zuvor entwickelte Kernspaltung für militärische Zwecke nutzbar zu machen. Unter ihnen befanden sich Akteure, mit denen Dürr in engem Kontakt stand. Da war beispielsweise Edward Teller, sein Doktorvater. Er erfand die Wasserstoffbombe. Zur ungefähr gleichen Zeit leitete Werner Heisenberg in Deutschland ein Uranprojekt, das jedoch erfolglos blieb. Dürr wurde sein Nachfolger am Max Planck Institut. An der Entwicklung der Atombombe war auch der polnische Physiker Jozef Rotblat beteiligt. Er verließ das Projekt später wegen ethischer Bedenken und kämpfte daraufhin für die Abschaffung aller Atomwaffen, indem er unter anderem die sogenannten Pugwash-Konferenzen organisierte. Und Dürr wirkte mit.  

Selbstgebastelte Karte mit dem Personennetz

Der 2014 verstorbene Astrophysiker war eingebunden in ein komplexes Geflecht an personellen Verbindungen, blieb aber ein Grenzgänger. Dieses Netz steht in der Dokumentation im Mittelpunkt, was sich nicht nur im Titel niederschlägt, sondern auch in einer selbstgebastelten Karte, die Regisseur Claus Biegert bei einem Besuch von Dürrs Witwe ausbreitet. Das gemeinsame Gespräch bildet den Rahmen, in dem die wissenschaftliche Tätigkeit des Ausnahmephysikers episodenhaft beleuchtet wird. Anhand der mitgebrachten Karte stellt der Regisseur die jeweiligen Verbindungen her, blendet Archivaufnahmen ein und behilft sich mit Animationen, um die Zusammenhänge zu erläutern. Zwischendurch kommen Dürrs Weggefährten zu Wort, genauso wie seine Witwe, die die einzelnen Lebensstationen kommentiert.

Engagement in der Friedensbewegung

In ihrer Machart ist die Dokumentation durchaus konventionell. Es kommen Stilmittel zum Einsatz, die man aus ähnlich Produktionen kennt. Allerdings sind sie so kreativ arrangiert, dass der Film erfrischend, ja geradezu innovativ anmutet. Zu seiner Faszination trägt der Protagonist ein gutes Stück bei. Schließlich war Hans-Peter Dürr jemand, der bei seiner wissenschaftlichen Arbeit die gesellschaftlichen und ökologischen Implikationen mitbedachte. Er engagierte sich in der Friedensbewegung und dachte viel darüber nach, wie Konflikte friedlich gelöst werden könnten. Was lag zwischen den Beziehungen – zwischen Teilchen, zwischen Menschen und vor allem zwischen Weltmächten? Das war die Fragestellung, die ihn umtrieb.

Und umtriebig war Dürr, gar keine Frage. Er lebte das vor, was er lehrte: Bewegung, geistige Flexibilität, Ausbruch aus Denkstrukturen. Eine Szene aus dem Film macht das besonders deutlich. Darin hält der Physiker einen Vortrag und erklärt die Gesetze des Pendels. Plötzlich fängt er zu philosophieren an: „Haben Sie schon mal überlegt, warum wir auf zwei Beinen laufen und nicht auf drei“, fragt er das Auditorium. „Ja wenn ich drei Beine hätte, wäre ich ganz schön stabil, ja. Aber dann wäre all das aus, was wir Leben nennen. Weil die Instabilität das ist, was wir Leben nennen, ja.“ Und dann kommt ein Satz, der so aktuell wirkt, als hätte er ihn gestern formuliert: „Wenn Sie sagen: Ich möchte absolute Sicherheit haben, dann legen Sie sich sofort ins Grab. Dann haben Sie die erfüllte Sicherheit.“ Aufgrund solcher Aussagen wirkt die Dokumentation sehr aktuell. Sie erscheint zu einer Zeit, in der Wissenschaftler wie Dürr unbedingt gebraucht werden.

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