«Auf beiden Seiten der Front» – Echter Journalismus im Reportage-Stil

Im Krieg stirbt die Wahrheit zuerst. Dieser Grundsatz hat bis heute Bestand und gilt erst recht für den Ukraine-Konflikt. Glaubhafte Informationen sind schwer zu bekommen. Was in den Leitmedien verlautbart wird, entspricht nur selten der Realität. Oftmals schreiben die Journalisten das, was andere vorher hochgeladen haben. Patrick Baab kritisiert das seit Jahren. Seiner Meinung nach ist es um die Zunft schlecht bestellt. Fast keiner seiner Kollegen wagt es noch, den Schreibtisch zu verlassen, um an Informationen zu gelangen. Doch genau das müssen Journalisten eigentlich machen, um die Verhältnisse so abzubilden, wie man sie vorfindet und wahrnimmt. Wie das funktioniert, hat Baab in seinem jüngsten Buch «Auf beiden Seiten der Front» demonstriert.

Der Titel ist Programm. Für den Investigativjournalisten war es wichtig, sowohl in der Ukraine zu recherchieren als auch in den abgespaltenen Gebieten und auf der Krim – vor Ort versteht sich. Herausgekommen ist ein enorm lesenswerter Bericht, der nicht nur den Horizont erweitert, sondern auch ästhetisches Vergnügen bereitet. Im klassischen Reportage-Stil beschreibt Baab aus der Ich-Perspektive, was er während seiner Reise erlebt hat, mal unmittelbar im Präsens, mal distanziert im Präteritum. Eigene Wahrnehmungen und Empfindungen gehen genauso in den Text ein wie Gespräche mit Personen, die der Journalist auf dem beschwerlichen Weg durch Russland und die Ukraine trifft. Es zeugt von großer Erzählkunst, wie Baab die Leser mitnimmt. Er spielt mit Rückblenden, webt Nebenhandlungen und baut immer wieder geschichtliche Exkurse ein, die die nötigen Hintergrundinformationen zum Konflikt liefern.

Geschichtliche Exkurse über die Maidan-Proteste hinaus

Um ihn verständlich zu machen, beschreibt der Autor die Vorgänge im Zuge der Maidan-Demonstrationen. Viele Teilnehmer hätten das bestätigt, was viele Kritiker jenseits der Leitmedien schon seit Jahren sagen: Die Proteste wurden von Geostrategen genutzt, um „die Ukraine dem kapitalistischen Verwertungskreislauf von Russland endgültig zu entreißen und ihre Ressourcen dem westlichen neoliberalen Kapitalismus zugänglich zu machen“. Die geschichtlichen Exkurse gehen jedoch weit über die Maidan-Ereignisse hinaus und vermitteln einen guten Eindruck davon, wie turbulent die letzten Jahrhunderte für die Ukraine waren. Sie stand schon immer zwischen den Großmächten und hatte es schwer, eine eigene Identität zu finden. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion jedoch wurde das Land aufgrund seiner günstigen Lage zum strategisch wichtigsten Territorium für US-amerikanische Interessen. Dazu gehört nicht nur die Schwächung Russlands, sondern auch ein Regime Change im Kreml.

In den hiesigen Leitmedien wird dieser Aspekt gerne unterdrückt. Doch dem heutigen Ukraine-Krieg ging ein anderer voraus, einer, den Baab kurz und knapp in seine wesentlichen Bestandteile zerlegt: „der völkerrechtswidrige Bombenangriff gegen Russlands Verbündeten Serbien im Jahr 1999; die NATO-Osterweiterung von 16 auf 28 Mitglieder, entgegen allen Zusagen an Russland; der Überfall auf den Irak 2003; die Orangene Revolution 2004 in Kiew, inszeniert nach dem Drehbuch der US-Organisation Freedom House und der Konrad-Adenauer-Stiftung, um einen russlandfreundlichen Präsidenten zu stürzen.“

Wirtschaftliche Interessen

Dabei werden auch die wirtschaftlichen Interessen nicht ausgelassen. Baab erklärt sie vor dem Hintergrund der seit 40 Jahren anhaltenden Wachstumsschwäche in den entwickelten Industrieländern. „Als Ursache gilt der tendenzielle Fall der Profitrate“, schreibt er. Deshalb sei es offensichtlich, dass die Einbeziehung der Ukraine in den westlichen Wirtschaftskreislauf Chancen gerade für die EU biete: „Dies öffnet einen Markt von 40 Millionen Menschen; ein Heer von Billigarbeitskräften sorgt in der EU für Druck auf die Löhne; die Schwarzerde-Böden können die Agrarproduktion steigern.“

Für seine Recherchen vor Ort wurde Baab hierzulande in die Mangel genommen. Die Diffamierungskampagne ließ nicht lange auf sich warten. Auch diese Begleiterscheinungen werden in dem Buch minutiös dargestellt, teilweise mit viel Leidenschaft, die spüren lässt, wie sehr sich der Journalist über die schlampige Arbeit seiner Kollegen ärgert. Sie waren es letztendlich, die Jagd auf ihn machten; die aufhetzten und unter anderem die Universität Kiel dazu bewegten, sich öffentlich von Baab zu distanzieren und ihm den Lehrauftrag zu entziehen. Der Journalist ist dagegen gerichtlich vorgegangen und hat gewonnen. Ändern wird das wenig. Der Schaden ist angerichtet – durch mediale Handlanger westlicher Eliten, die unbedingt vermeiden wollen, dass bestimmte Informationen eine Verbreitung finden.

Dabei hat Baab in seinem Buch keine Kreml-Apologetik betrieben. Die Verhältnisse in Russland und den abgespaltenen Gebieten in der Ukraine werden nicht geschönt. Der Autor erwähnt die Korruption im Land und verschweigt weder die Reiseverbote für Reservisten noch die Verhaftung von Demonstranten, die gegen die Teilmobilisierung protestierten. Ihm Einseitigkeit vorzuwerfen, ist ungerecht, erst recht, wenn man bedenkt, welche Risiken Baab auf sich genommen hat. Sein Buch legt davon Zeugnis ab. Es enthält Passagen, die sich wie ein Abenteuerroman lesen, weil der „rasende“ Reporter durchaus in gefährliche Situation gerät. Davon wollen die heutigen Schreibtischtäter freilich nichts wissen. Das Buch richtet sich aber auch nicht an sie, sondern an Menschen, die echten Journalismus schätzen.

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