Frohe Weihnachten

Eine Kurzgeschichte

Lisa blickte in die verängstigten Augen ihrer Mutter, die leicht zitternd die Tür öffnete. Der Schritt über die Schwelle fiel ihr so schwer, dass sie glaubte, irgendeine unsichtbare Kraft hinderte sie daran, die Wohnung zu betreten. Etwas Unwirtliches lag in der Luft. Die Stimmung war bedrückend. Es herrschte Totenstille, die den Eindruck erweckte, zu einem Leichenschmaus gekommen zu sein. Lisa hatte zwar geahnt, dass der Weihnachtsabend dieses Jahr etwas anders ausfallen könnte als sonst. Aber in diesen ersten Sekunden wurde ihr schlagartig bewusst, dass sie die Situation möglicherweise unterschätzt hatte. „Komm rein, mein Kind“, sagte ihre Mutter flüsternd und blickte hastig zur Seite. Lisa sah ihren Bruder mit krausgezogener Stirn im Sessel sitzen.

„Mutter, frag sie bitte, ob sie sich hat testen lassen“, sagte er im scharfen Ton. „Wenn sie schon so unvernünftig ist, dann soll sie uns zumindest beweisen, dass wir vor ihr sicher sind.“

Neben dem gedeckten Tisch glänzte der Tannenbaum. Die grünen Nadeln verhießen Hoffnung, während die Weihnachtskugeln das Licht in zornigem Rot reflektierten. Lisa schaute Peter lange an und glaubte, ihn für diese Frechheit gerügt zu haben. Doch es waren ihre Gedanken, die in Rage gerieten. „Du kannst auch direkt mit mir sprechen“, sagte sie schließlich. „Und nein, ich habe mich nicht testen lassen.“

Peter erhob sich blitzschnell aus dem Sessel, so aufbrausend, dass seine Frau Kerstin ihn reflexhaft am Arm packte und wieder nach unten drückte. „Beruhig dich“, sagte sie zu ihm. Peter fuchtelte mit den Händen. „Wir haben eine Pandemie der Ungeimpften, und sie taucht hier nicht einmal mit einem negativen Test auf“, schrie er. „Du solltest dich schämen.“

„Was haben wir?“ Lisa spürte, wie ihr Puls schneller zu werden begann.

„Pandemie der Ungeimpften. Du hast richtig gehört. Das sagen alle Experten.“

„Welche Experten meinst du? Wovon redest du?“

„Eure Quacksalber meine ich natürlich nicht. Sondern richtige Mediziner, echte Virologen, Leute eben, die etwas davon verstehen. Du solltest dich mal zur Abwechslung aus Qualitätsmedien informieren.“

Lisa wusste nicht, was sie ihrem Bruder entgegnen sollte, so absurd fand sie seine Aussagen. Sie zog ihre Schuhe aus und überlegte, wo sie sich hinsetzen sollte. Der Tisch vor dem Fenster war schon gedeckt. Aus der Küche breitete sich der Duft brutzelnden Gänsebratens aus. „Kann ich dir irgendwie helfen“, fragte sie ihre Mutter, die noch immer wie erstarrt dastand.

„Halt“, hörte sie wieder ihren Bruder rufen. „Komm bloß nicht in unsere Nähe.“ In seinen Augen funkelte gallige Panik. „Sag ihr bitte, dass sie auf Abstand bleiben soll“, wandte er sich an die Mutter.

„Wovor hast du eigentlich solche Angst“, fragte Lisa. „Du bist doch geimpft. Das hast du doch gemacht, um geschützt zu sein. Das bist du jetzt, oder nicht?“

„Lenk nicht ab, Lisa!“ Bleib gefälligst an der Tür, bis wir eine Lösung gefunden haben.

„Ich habe ein Test-Kit dabei“, sagte seine Frau Kerstin wie aus der Pistole geschossen.

„Ich lass mich auf keinen Fall testen; lasst euch das gesagt sein. Ich bin kerngesund. Ich fühle mich wohl. Von mir braucht ihr keine Angst zu haben.“

„Das hat nichts mit Angst zu tun“, unterbrach sie Peter, „sondern mit Vernunft. Schon mal was von asymptomatischen Fällen gehört? Die Leute stecken andere an, ohne es selber zu wissen. Das ist ja das Gefährliche.“

„Jetzt beruhigt euch bitte“, schaltete sich die Mutter ein. Lisa sah ihr an, wie unwohl sie sich fühlte. Sie suchte nach Worten und putzte ständig ihre Hände am Küchentuch ab. „Peter, reg dich bitte nicht auf. Wir finden schon einen Weg“, sagte sie und legte ihren Arm um Lisas Hüfte.

„Hör mal, mein Kind, mach es doch ganz schnell, damit er Ruhe gibt“, flüsterte sie wieder. „Ich weiß, dass du anderer Meinung bist. Aber heute ist Heilig Abend.“

Der Arm um ihre Hüfte versteifte. Der Druck schnürte ihr die Luft ab. Lisa bemerkte, wie angespannt ihre Mutter wirklich war.

„Ist gut, Mutter. Ich mach es – dir zuliebe“, sagte sie nach einer kurzen Pause und spürte, wie sich der Griff um ihre Hüfte lockerte.

„Danke dir, mein Kind. Sie gab Lisa einen Kuss auf die Stirn und wandte sich an Peters Frau. „Kerstin, gib mir doch bitte das Test-Kit, sei so gut. Lisa macht das, und dann essen wir friedlich zusammen wie eine ganz normale Familie.“ Sie schaute Peter beschwichtigend an. Auf ihren zusammengepressten Lippen lag die Bitte, er möge geduldig bleiben.

„Das will ich doch hoffen“, entgegnete Peter und beobachtete, wie Kerstin in ihrer schwarzen Handtasche nach dem Test-Kit suchte. Als Lisa es in die Hand nahm, überkam sie Ekel. Bislang hatte sie sich strikt geweigert, einen Test zu machen. Allein die Vorstellung, das Stäbchen in die Nase zu stecken, löste Widerwillen und heftige Abneigung aus. Irgendetwas in ihr sträubte sich gegen einen derartigen Eingriff. Vermutlich weil er mit Zwang verbunden war. Lisa hasste es, etwas tun zu müssen, erst recht, wenn es ihren Körper betraf.

„Teste dich bitte dort an der Kommode“, sagte Peter. „Aber mach es so, dass wir es sehen können. Nicht dass du schummelst.“ Lisa wollte schon aufbegehren und ihn für seine Unverschämtheit scharf zurechtweisen, ließ sich aber von den nervösen Bewegungen ihrer Mutter besänftigen. Wieder putzte sie ihre Hände am Küchentuch ab und änderte fieberhaft ihre Körperhaltung, als wäre sie ein batteriebetriebenes Stofftier, das gerade aufgezogen war. Lisa sagte nichts, sondern beließ es dabei, Peter mit einem grimmigen Blick zu bedenken. Die Kommode stand links neben dem Schlafzimmer. Lisa schob die Lampe zur Seite und fing an, das Test-Kit auszupacken, langsam und mit einer Abscheu, die ihre Sinne betäubte. Bevor sie das Stäbchen in die Nase führte und es an der Seite drehte, überkam sie Scham. Es war ein Gefühl der Erniedrigung, in dem sich Unbehagen, Selbstverachtung und blinde Wut vermischten. Lisa schloss die Augen, um diesen traurigen Vorgang soweit es ging auszublenden. Als sie das Stäbchen in die Flüssigkeit tunken wollte, merkte sie, wie ihre Hand zitterte. Einige Tropfen landeten neben der Test-Kassette. Lisa rang um Beherrschung. Ihr Atem war unregelmäßig und verursachte einen kurzen Hustenanfall.

„Na, na, na“, hörte sie ihren Bruder hinten. „Du wirst doch nicht krank sein.“

Lisa war zu sehr auf sich selbst konzentriert, um darauf einzugehen. Sie schaute lange auf die Kassette und versuchte, wieder einen klaren Gedanken zu fassen. „Da tut sich nichts“, sprach sie in den Raum.

„Du musst fünfzehn Minuten warten. Hast du denn noch nie so einen Test gemacht?“

Sie blickte zu ihrer Mutter, die die Kassette gespannt beobachtete, als liefe gerade ein Thriller im Fernsehen. Nach einer Weile bildete sich am C ein roter Balken. Lisa wusste nicht, was das nun bedeutete. Um ihrem Bruder nicht noch eine Steilvorlage für einen ätzenden Kommentar zu geben, las sie den Beipackzettel. „Negativ, es ist negativ.“, sagte sie schließlich mit beinahe feierlicher Stimme und war überrascht, dass das Ergebnis bei ihr eine solche Erleichterung ausgelöst hatte.

„Na immerhin“, hörte sie ihren Bruder rufen, der gerade mit der Gabel Wurstsalat in den Mund schob. „Das heißt aber nicht, dass die Gefahr gebannt ist“, sagte er kauend. „Ein Restrisiko bleibt. Schließlich bist du ungeimpft.“

„Jetzt lass mal die Kirche im Dorf, Peter. Ich habe keinerlei Symptome. Ich fühle mich nicht krank, und jetzt ist auch noch der Test negativ ausgefallen. Was willst du denn noch von mir?“

„Ja, Peter“, versuchte jetzt ihre Mutter auf ihn einzureden. „Jetzt kann uns doch gar nichts passieren. Wir sind sicher und können schön zusammen essen. Na komm.“ Sie blickte zu Lisa und winkte sie herbei. „Setz dich, mein Kind.“

„Nein, nein, nein“, unterbrach sie Peter. „Auf keinen Fall. Ein gewisser Abstand sollte dennoch gewahrt bleiben. Mutter, du darfst nicht vergessen, dass sie ungeimpft ist. Ich bin auch froh, dass der Test negativ ausgefallen ist. So kann sie zumindest in der Wohnung bleiben. Aber es wäre schon besser, wenn sie an einem eigenen Tisch sitzen würde. Hol ihr doch den kleinen aus der Küche und stell ihn dort neben die Kommode hin.“

„Peter, spinnst du jetzt völlig“, sagte Lisa verblüfft und machte einen Schritt nach vorne.

„Halt! Nicht näherkommen. Halt bitte Abstand.“ Peter streckte seinen Arm aus, um mit seiner Hand eine blockierende Schutzgeste zu formen.

„Jetzt hör mir mal zu, mein Lieber“, erhob Lisa die Stimme und merkte, dass sie nun allmählich doch die Fassung verlor.“

„Ich esse doch nicht ganz alleine an einem separaten Tisch wie eine Aussätzige. Geht’s noch. Schlimm genug, dass ich mich dazu herabließ, einen Test zu machen. Aber hier endet mein Entgegenkommen. Ich will morgen noch in den Spiegel schauen können. Einen Rest an Würde habe ich noch.“ Sie schaute zu ihrer Mutter, die vor Anspannung zitterte, aber kein Wort herausbrachte. Lisa blickte sie mehrere Sekunden an, in der Hoffnung, in deren Gesichtszügen Verständnis zu finden. „Tut mir leid, Mutter. Aber so weit werde ich nicht gehen. Der Test war die absolute Grenze. Hier ist definitiv Schluss. Das musst du doch verstehen?“

Ihre Mutter drehte sich schluchzend um und hielt sich die Hüfte. „Macht es unter euch aus“, sagte sie dann mit brüchiger Stimme. „Ich halte das nicht mehr aus.“

„Siehst du, was du angerichtet hast“, schrie Peter sie an. „Warum kannst du nicht wenigstens einmal vernünftig sein. Verstehst du denn nicht, dass du als Ungeimpfte eine Gefahr für uns bist. Denk doch zur Abwechslung mal nicht nur an dich selbst. Die Mutter gehört zur besonders vulnerablen Gruppe. Da ist Vorsicht geboten. Dann sitzt du halt ein paar Meter von uns entfernt; was ist schon dabei!“

„Vergiss es, Peter! Wie wäre es, wenn du nun über deinen Schatten springst. Ich habe das gerade getan. Jetzt bist du an der Reihe.“

„Ich bin über meinen Schatten gesprungen, als ich mich impfen ließ. Meinst du ich habe es gern, wenn jemand eine Nadel in meinen Arm jagt? Aber es musste sein, auch aus Solidarität mit der ganzen Gesellschaft. Wenn sich alle so sträuben wie du, hört die Pandemie nie auf.“

„Ich. Esse. Nicht. Alleine. An einem. Gesonderten Tisch, Peter. Das ist mein letztes Wort.“

„Das ist dein letztes Wort?“

„Ja!“

„Gut, dann esst ihr ohne uns. Komm wir gehen“, sagte er zur Kerstin, die sofort aufstand.

„Jetzt bleib doch, Peter“, wandte sich die Mutter an ihn, mit den Händen seine Arme festhaltend. „Wir finden doch bestimmt einen Ausweg. Beruhig dich ein wenig.“

„Tut mir leid, Mutter. Aber mit ihr kann man einfach nicht reden.“ Er riss sich los, nahm Kerstins Hand und öffnete die Tür. Als er über die Schwelle gegangen war, drehte er sich noch einmal um. „Ach ja, frohe Weihnachten!“

Titelbild: Pixabay/Monika

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