Nur mit 2G-Nachweis

Eine Kurzgeschichte

Mark hatte kaum die Tür hinter sich geschlossen, da sah er schon Roberts durchdringenden Blick. In dessen Augen vermischten sich Angst, Strenge und Mitgefühl. Es war ein Knäul aus Gefühlsregungen, die mehr sagten als Tausend Worte. Mark nickte zögerlich, eher fragend als grüßend. Robert wartete einen kurzen Moment ab, bevor er mit dem Kopf auf den freien Hocker an der Bar wies. Ja, er durfte bleiben. Auf Robert war Verlass. Sie kannten sich schon sechzehn Jahre, hatten hier schon philosophische Diskussionen geführt, so manchen Absturz erlebt, viele Leute kennengelernt. Seit den neuen Verordnungen fühlte er sich hier nicht mehr so wohl. Robert konnte nichts dafür, er stak in einem Dilemma wie alle Gastronomen, zumindest wie diejenigen, die so dachten wie er. Die Politik war widersinnig, hochgradig unmenschlich; das sagte ihm Robert mehrmals. Aber er musste mitspielen, wenn er seine Bar behalten wollte. Die Verluste wegen des ersten und zweiten Lockdowns bereiteten ihm noch immer Kopfzerrbrechen. So aufgewühlt und angespannt hatte er ihn nie zuvor erlebt. Mark setzte sich, ohne etwas zu sagen. Er fühlte sich wie ein illegaler Flüchtling in einem fremden Land, ständig auf der Hut, um bloß nicht erwischt zu werden. Die Bar war halbvoll, Betrieb wie an einem Dienstagabend. An einem Wochenende hatte Mark sie noch nie so schlecht besucht gesehen. Es würde noch lange dauern, bis sich die Dinge normalisierten. Diese verdammten 2G-Regeln, er ärgerte sich jedes Mal aufs Neue. „Nur ein Bier, Mark, nur eins“, flüsterte Robert, der gerade seitlich an ihn herantrat. Er wirkte hektisch, schaute um sich, beobachtete die Gäste. „Das Ordnungsamt kann jeden Moment kommen.“

„Waren sie schon mal hier?“

„Allein gestern zwei Mal, in der letzten Woche fast täglich.“

„Und was haben sie gemacht?“

„Gingen von Tisch zu Tisch, kontrollierten die Zertifikate, stellten dämliche Fragen: ‚Schauen Sie auch auf das Datum?‘, ‚Machen Sie wirklich keine Ausnahmen?‘ und so ein Zeug. Mir steht’s bis hierhin, ich sag’s dir.“ Mark spürte Roberts Nervosität, seine aufgestaute Wut, die er dämpfen musste, um als Gastronom zu überleben. „Also gut, mach mir eins. Ich trinke es auch schnell.“ Robert nickte und verschwand hinter dem Tresen. Aus den Boxen in der oberen Ecke lief This Bitter Earth von Dinah Washington. Ihre kräftige, rauchige Stimme füllte den Raum mit tiefer Wehmut. „This bitter earth / Well, what a fruit it bears / What good is love / Mmm, that no one shares.” Mark ließ sich gedanklich wegtreiben. Melancholisch blickte er in sich hinein und sah eine Leere, deren Weite bedrohlich wirkte. So schnell konnte es gehen. Gestern war er noch völlig frei, heute brauchte er schon ein Zertifikat, um am öffentlichen Leben teilzunehmen. Was würde er in Zukunft noch machen dürfen? Wie hoch würde der Druck steigen? Mark spielte mehrere Szenarien durch. Einkaufen konnte er im Internet. Aber Konzerte, Kino, Restaurantbesuche – das ließ sich nicht kompensieren. Vielleicht durfte er bald schon nicht mehr arbeiten ohne 2G-Nachweis, vielleicht nicht einmal die eigene Wohnung verlassen. Der Politik traute er jetzt alles zu. Sie würde zu jedem Mittel greifen, solange die Mehrheit hinter ihr stand. Wie konnte das nur passieren? Wie konnte es nur dazu kommen? Mark rieb sich mit der rechten Hand beide Schläfen und spürte ein unstillbares Verlangen, seine Gedanken zu betäuben. „Lord, this bitter earth / Yes, can be so cold / Today you’re young / Too soon, you’re old / But while a voice within me cries / I’m sure someone may answer my call / And this bitter earth / Ooh, may not, oh, be so bitter after all.”

„Zum Wohl!“ Robert stellte ihm das schwitzende Bierglas hin und verschwand wieder, so schnell, wie er gekommen war. Mark fühlte sich wie ein Aussätziger, wie ein Krimineller auf der Flucht, dessen Nähe jeder mied, der ihn kannte. Von ihr ging eine Gefahr aus. Sie hatte etwas Toxisches, das Leid und Unheil brachte. Mark nahm einen großen Schluck und versuchte, sich zu entspannen. Früher hätte er jetzt seinen Nachbarn an der Bar angesprochen und Konversation gemacht. Heute musste er sich zurückhalten. Vorsicht war das Gebot der Stunde. Keiner durfte Verdacht schöpfen, sonst ging es ihm und Robert an den Kragen. Die Denunzianten waren überall. Mark wusste selber nicht mehr, wem er trauen konnte. Jeder war ein potentieller Spitzel. Der dort hinten am Zweiertisch könnte einer vom Ordnungsamt sein, in zivil, lauernd und observierend. Mark wollte ihn nicht direkt anschauen, sondern hob nur kurz die Augen, den Kopf leicht nach unten senkend. Die Frau im gelben Kleid zwei Tische weiter sah ebenfalls verdächtig aus. Sie rauchte eine Zigarette nach der anderen und schaute die ganze Zeit in seine Richtung, ohne ein einziges Mal auf ihrem Smartphone zu tippen oder am Tee zu nippen.

Mark schaute nach rechts und sah ein Pärchen, das sich lebhaft unterhielt. Nebenan saß eine Gruppe aus vier Personen, allesamt Männer, die den Eindruck machten, als ob sie seit der Kindheit befreundet waren. Einer von ihnen schien mit sich selbst beschäftigt zu sein, blickte immer wieder in die Leere und beteiligte sich kaum am Gespräch. Hatte er es vielleicht bemerkt, dass Mark kein Zertifikat vorzuzeigen brauchte? Verhielt er sich deswegen so seltsam? Mark spürte, wie seine Hand zitterte, als er erneut zu seinem Bier griff. Hastig nahm er wieder einen riesigen Schluck und leerte das Glas zu drei Vierteln. Während er trank, sah er aus dem Augenwinkel, wie sich die Frau im gelben Kleid eine neue Zigarette anzündete. Er glaubte, ihren Blick auf der Haut zu spüren. Sie musste vom Ordnungsamt sein, ganz bestimmt. Oder noch schlimmer – von der Polizei.

Er musste hier raus, jetzt, gleich, sofort. Ihm war, als schnürte sich seine Kehle zu. Mark spürte, wie sein Atem schwerer wurde. Auf seinen Handflächen bildete sich Schweiß, kalter, klebriger Schweiß, den er an seiner Jeans abwischte. „Darf ich Ihren Impfausweis sehen“, hörte er plötzlich jemanden hinter sich sagen. Mark erstarrte. Das war’s, sie hatten ihn. Wie sollte er reagieren? Was drohte ihm jetzt? Ordnungsgeld, Polizeieinsatz, Arbeitsplatzverlust? Und Robert, was machen sie mit ihm? Langsam drehte sich Mark um und sah, wie zu der Vierergruppe ein weiterer Freund lächelnd hinzustieß. Die anderen lachten. Er musste einen Scherz gemacht haben. Mein Gott, es war ein Scherz, nur ein Scherz! Mark spürte, wie ihm ein Stein vom Herzen fiel.

Er stieg hektisch vom Barhocker herunter und eilte in die Toilette. Das kalte Wasser tat ihm gut, es beruhigte und schärfte die Sinne. Er befeuchtete sein Gesicht mehrere Male, atmete tief ein und aus und blickte in den Spiegel, um ein leichtes Lächeln zu formen. Es wirkte gequält, künstlich, aufgesetzt. Als Mark wieder in den verqualmten Raum trat, sah er sofort Roberts entsetzten Gesichtsausdruck. Über Mund und Nase hing jetzt eine Maske, die es nicht verhinderte, dass Mark erkennen konnte, wie sein Freund sich auf die Zähne biss. Auf dessen Stirn bildeten sich tiefe Falten. Mark schaute nach links und entdeckte zwei uniformierte Männer in Weiß, die gerade das Pärchen auf die Zertifikate kontrollierten. Sie waren tatsächlich gekommen.

Mark blieb ruckartig stehen. Seine Füße fühlten sich plötzlich wie Blei an. Sein ganzer Körper war wie gelähmt, abgeschnitten vom Gehirn, in dem die Synapsen verrücktspielten. Was sollte er jetzt tun? Mark suchte Roberts Blick, fand darin aber keine Antwort, sondern nur panische Angst. Leise und mit langsamen Schritten bewegte er sich zu seinem Platz, in der Hoffnung, von den Ordnungsamt-Mitarbeitern nicht gesehen zu werden. Sie waren derweil zu dem Tisch der fünf Freunde weitergegangen. „Hallo, die Herren, dürfen wir Ihre Impf- oder Genesenennachweise sehen“, hörte er einen von ihnen sagen. Mark drehte sich ein wenig nach rechts, um die Szene zu beobachten, ohne aufzufallen. Er wollte in der Lage sein, die Situation irgendwie kontrollieren zu können. Er musste nur auf den richtigen Moment warten und die Bar schnell verlassen. Wenn die Uniformierten beide mit dem Rücken zu ihm standen, würde er fliehen. Ihm blieb nichts anderes übrig. Die fünf Freunde holten ihre Handys heraus und suchten nach dem entsprechenden Zertifikat. Mark kam es wie eine Ewigkeit vor. Er fühlte, wie sich seine Muskeln verkrampften. Mit jeder weiteren Sekunde steigerte sich seine Ungeduld. Dann, endlich, beugten sich beide Uniformierten über die Smartphones und kontrollierten. Das war seine Chance. Vorsichtig stieg er vom Hocker und steuerte die Tür an, mit sanften Schritten, fast schon über den Boden gleitend. Er wollte gerade die Klinke nach unten drücken, da erschallte eine laute Stimme, die den ganzen Raum elektrisierte. Alle Anwesenden brachen ihre Gespräche ab und drehten sich um, auch Mark. „Ihren Nachweis würden wir auch noch gerne sehen“, sagte einer der Uniformierten. Er war lang und schlaksig. Sein strenger Blick verriet, dass er seinen Job ernst nahm. Von ihm konnte Mark keine Nachsicht erwarten; dessen war er sich sofort bewusst, als er ihn hilflos anstarrte. „Meinen Sie mich“, fragte er scheinbar überrascht.

„Sie meine ich, ganz genau.“

„Ich bin schon auf dem Weg nach Hause.“

Der Uniformierte hob unbeeindruckt die Schultern. „Sie waren doch hier. Wir brauchen ihren Nachweis. Zeigen Sie ihn mir bitte.“ Hastig griff Mark in seine Hosentasche und holte sein Handy heraus. Er wusste nicht recht, was er machen sollte – weglaufen oder den Uniformierten ablenken, ihm einen Bären aufbinden oder ehrlich sein und darum bitten, ein Auge zuzudrücken. Um Zeit zu gewinnen, tat er so, als könnte er das Zertifikat nicht finden. Er tippte und wischte, schaute zur Seite, gab vor nachzudenken. Die Sekunden dehnten sich. Es entstand eine Stille, in der jeder Laut wie von einem schwarzen Loch absorbiert wurde. Mark hielt es nicht aus. Er drehte sich energisch zur Seite, öffnete ruckartig die Tür und rannte hinaus. Er spürte noch den Griff des Uniformierten am Ärmel, konnte sich aber losreißen. Wie im Zeitraffer strömten die Häuser schneller und schneller an ihm seitwärts vorbei. Die Straße verwandelte sich in ein Laufband, das außer Kontrolle geriet. Mark bereute es sofort, konnte aber nicht zurückkehren. Scham, Wut und Hass trieben ihn an, beschleunigten seine Schritte. Er dachte an Robert und verachtete sich dafür, ihn so verraten zu haben. Was passierte jetzt mit ihm? Würde er die Konzession verlieren? Drohte ihm eine hohe Geldstrafe? Aber es war zu spät, es war einfach zu spät. Die Selbstvorwürfe fraßen sich durch seine Glieder, töten jeden klaren Gedanken. Mark wollte nicht aufhören zu rennen, er wollte verschwinden und sich in Luft auflösen. Er wollte wieder frei sein, endlich wieder frei sein.

Titelbild: Pixabay/Wilfried Pohnke

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