Die Freistellung

Eine Kurzgeschichte

„Ich darf Sie leider nicht reinlassen“, hörte sie den Security-Mitarbeiter sagen. Antonia musste einmal nachfragen, um sich zu vergewissern, dass er es ernst meinte. Gestern ging sie noch problemlos hinein und öffnete mit ihrer Karte die erst kürzlich eingebauten Kliniktüren. Jetzt stand sie hilflos davor, vor diesem steril wirkenden Gebäude, aus dem die Menschen hofften, gesünder hinaus- als hineinzukommen. Dass das nicht selbstverständlich war, wusste Antoni nur allzu gut. In den letzten Tagen pflegte sie diesen übergewichtigen Riesen, einen Felsbrocken von Mann, der nach seiner Herzoperation ständig das Bewusstsein verlor. Er war der anstrengendste Patient zurzeit. Ihm allein widmete sie zwei Fünftel ihrer ohnehin knappen Zeit. Ständiges Klingeln, unverständliche Sätze, patzige Antworten. Es gab wahrlich schönere Arbeitstage. „Warum nicht“, fragte sie den Security-Mitarbeiter.

„Das weiß ich nicht. Ich habe die Order, Sie nicht reinzulassen. Sie heißen doch Frau Schäfer?“

Antonia nickte. Sie musste ihren Ärger zügeln. Der arme Kerl konnte nichts dafür. Er befolgte nur Befehle – wie so viele gerade. „Darf ich kurz meine Stationsleitung anrufen?“, fragte sie ihn höflich und zeigte auf das Haustelefon neben ihm. Er schüttelte verlegen den Kopf.

„Ich verstehe“, sagte Antonia und griff in ihre kleine Ledertasche, um das Smartphone herauszuholen. „Ja bitte“, hörte sie Marta sagen. Seitdem sie vor einem halben Jahr zur Stationsleitung aufgestiegen war, kühlte sich ihr Verhältnis ab. Marta hasste alle, die sich nicht impfen lassen wollten. „Marta, der Security-Mitarbeiter lässt mich nicht rein. Er sagt …“ Marta unterbrach sie sofort, so brüsk, wie sie in letzter Zeit immer sprach. „Antonia, du bist freigestellt. Wir haben dir genug Zeit gegeben. Du weißt das.“ Sollte man dafür auch noch dankbar sein. Es waren anstrengende, zermürbende Monate voller Schikanen, Druck und Ausgrenzung. Antonia glaubte, in dieser Zeit schneller gealtert zu sein als in den 37 Jahren zuvor. Seitdem die berufsbezogene Impfplicht beschlossen worden war, spürte sie Stress rund um die Uhr. Die täglichen Corona-Tests vor der Arbeit, immer in Anwesenheit eines Kollegen. Wie entwürdigend. Und die Zeitverschwendung. Dafür musste sie immer zwanzig Minuten früher kommen. Als ob sie nichts anderes zu tun hätte, sie, die als Alleinerziehende Haushalt, Kinderbetreuung und Privatleben miteinander vereinbaren musste. „Wer hat das beschlossen?“ Sie wusste es eigentlich, wollte sich aber nicht so schnell abbügeln lassen.

„Na die Uniklinik natürlich. Das Gesundheitsamt hatte zuvor den Befehl gegeben.“ Das war typisch für Marta. Seit ihrer Beförderung sprach sie gerne im Militärjargon. Wir müssen das Virus bekämpfen, mit allen Waffen die wir haben. Wir müssen Befehle befolgen. Es gibt klare Hierarchien im Haus. Wir müssen den Feinden entschieden entgegentreten. Wir dürfen den Ungeimpften keine Chance geben. Immer dieses Wir, als wäre die Uniklinik ein Bataillon. Antonia gehörte nicht dazu. Sie war die Abtrünnige, die Deserteurin, und Marta rieb es ihr ständig unter die Nase, so oft sie konnte. Auch jetzt wieder, diese genüssliche Kargheit, der passiv-aggressive Unterton. „Müsste ich es nicht schriftlich bekommen“, fragte sie etwas verwundert.

„Hast du. Der Brief soll vor fünf Tagen rausgegangen sein. Bis gestern hattest du noch die Möglichkeit, dich impfen zu lassen.“ Vor fünf Tagen? Antonia überlegte. Sie musste es vergessen haben, in den Briefkasten zu schauen. Die letzte Zeit war so turbulent, sie wusste nicht, wo ihr der Kopf stand. Nicos Geburtstag, die Organisation des Ausflugs, die nervige Korrespondenz mit den Eltern. Zwischendurch die endlosen Telefonate mit dem Handwerker, der sie mit Fragen und immer neuen Terminvorschlägen bombardierte. Dazu der kurze unruhige Schlaf. Auf der Station war die Hölle los. Ständig unterbesetzt. Ihre Kollegen fielen reihenweise aus, komischerweise alle geimpft. Und sie, die böse Ungeimpfte, musste das kompensieren. Sie arbeitete für zwei, rannte von Zimmer zu Zimmer, nassgeschwitzt, ohne gegessen zu haben. Als sie gestern den Felsbrocken zur Toilette führte, fühlte sie sich so schwach, dass sie glaubte, ihn nicht mehr halten zu können. Es fehlte nicht viel, und er wäre auf sie gefallen. Seit Antonia ihm das erste Mal aus dem Bett half, entwickelte sie vor diesem Szenario eine panische Angst. In ihrem Kopf liefen immer wieder die gleichen Bilder ab – wie er das Bewusstsein verliert, strauchelt, mit seinen 167 Kilogramm in ihre Arme fällt und sie unter sich begräbt. Diese Szenen verfolgten sie in den Schlaf, schlichen sich in ihre Träume, ließen ihren Körper erzittern.

„Das war’s also“, fragte sie ungläubig. „Ich darf die Uniklinik nicht mehr betreten? Ich darf nicht mehr arbeiten, ist das so?“

„Vorerst, ja!“

„Was heißt vorerst?“

„Antonia, du müsstest es wissen. Wenn du dich impfen lässt, darfst du auch wieder arbeiten.“

„Du weißt aber schon, dass das indirekter Zwang ist. Die Impfung sollte eine freiwillige Entscheidung sein.“

„Na ich habe mir das nicht ausgedacht. Aber Gesetz ist Gesetz.“ Diese geheuchelte Art konnte sie an Marta am allerwenigsten leiden. Wie sie immer die Unschuldige spielte, die Pflichttreue, als meinte sie es eigentlich gut, müsste sich aber von Berufs wegen fügen. Dabei freute sie sich heimlich wie Bolle, dass die Ungeimpften endlich bestraft wurden. Und diese ständigen Ausflüchte, einfach unerträglich. Es sei höhere Gewalt, sie könne ja nichts dafür. Sie befolge ja nur Befehle.

„Und ihr könnt da wirklich nichts mehr machen?“

„Nein, tut mir leid. Das Gesundheitsamt hat das angeordnet.“

„Wie wollt ihr denn das kompensieren. Ich war doch die Einzige, die in letzter Zeit einspringen konnte, wenn die anderen ausfielen. Und es fiel ständig jemand aus. Das weißt du doch ganz genau.“

„Lass das mal unsere Sorge sein, Antonia! Das ist immer noch besser als das Risiko, das wir mit dir eingehen.“

„Risiko?“, schrie Antonia verärgert.

„Du gefährdest die Patienten. Als Ungeimpfte stellst du in der Klinik eine Gefahr dar. Deswegen ist es ja verpflichtend. Dass dir das nicht in den Kopf geht …“

Antonia schüttelte ungläubig den Kopf. Eine Freistellung war keine Kündigung. Sie würde weiter eingestellt sein, jedoch nicht bezahlt werden. Ohne die monatlichen 2.004 Euro konnte sie nicht überleben. Wie sollte sie die Miete bezahlen, wie Nicos Nachmittagsbetreuung finanzieren?

„Marta, ist dir bewusst, in welche Lage ihr mich da bringt? Ich verliere mein Einkommen.“

„Das hättest du dir vorher überlegen sollen, meine Liebe!“ Es entstand eine kurze Pause. Antonia kämpfte mit den Tränen, wollte Marta aber nicht das Gefühl geben, gesiegt zu haben. Sie musste sich sammeln, damit ihre Stimme nicht brüchig klang.

„Melde dich beim Arbeitsamt, lass dir einen neuen Job vermitteln. Keine Ahnung – du wirst schon durchkommen.“ Antonia schluckte. Auf ihrer Wange spürte sie, wie sich ein nasser Streifen bildete. Das Arbeitsamt, oh Gott, sie wollte erst gar nicht daran denken. Diese Behörden waren alle gleich, völlig empathielos und in Strukturen gefangen, die keiner überblickte. Vermutlich wussten die Angestellten selbst nicht, was sie da täglich taten. Antonia hatte sich bereits vor zwei Monaten arbeitssuchend gemeldet, um auf den heutigen Tag vorbereitet zu sein, auch wenn sie krampfhaft verdrängte, dass er tatsächlich kommen würde. Was dann folgte, war an Absurdität nicht zu überbieten. Sie bekam fünf oder sechs Bewerbungsangebote, allesamt Stellen in der Uniklinik, nur in einer anderen Abteilung. Antonia fühlte sich wie in einem Roman von Kafka. „Bist du noch da“, hörte sie Marta sagen, wieder so barsch, dass sich ihre Haare sträubten. „Also ich muss jetzt weitermachen. Lass dich impfen, Antonia! Mehr kann ich dir nicht sagen.“ Der schräge Ton am anderen Ende der Leitung klang wie das alarmierende Signal des Herzfrequenz-Monitors, der den Tod verkündet. Antonia spürte ein leichtes Schwindelgefühl aufsteigen. Der Boden unter ihren Füßen verwandelte sich in Watte, die sich zu dehnen begann. Sie musste sich mit der rechten Hand an der Wand abstützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. In ihrem Kopf schwirrten tausend Gedanken, mehr Impulsfetzen als ausgeformte Sinneinheiten. Was sollte sie jetzt tun? Sollte sie abwarten, klagen oder abends kellnern? Oder vielleicht doch impfen lassen? Dann hätte sie zumindest ihre Ruhe. Und auch Nico müsste nicht leiden. Sie war doch nicht alleine, sie trug doch für den Kleinen Verantwortung. Ihr Schicksal war gleichzeitig das seine. Das hat der Arme nicht verdient. Er war noch so unschuldig. Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken. Es war wieder Marta. Der Schriftzug blinkte so enervierend, dass sie aufschrak. Antonia schaute wie betäubt auf das Display, ohne zu wissen, ob sie drangehen sollte. Etwas in ihr, ließ sie hoffen und führte den Zeigefinger zum grünen Telefonsymbol. Ist Marta plötzlich bewusst geworden, wie schäbig sie sich gerade verhalten hatte? Oder wollte sie sie heute noch ein letztes Mal arbeiten lassen, weil die Station wieder unterbesetzt war? Ihr traute Antonia alles zu. Aber das Traurigste war, dass sie es tatsächlich machen würde. Für einen Moment schloss sie die Augen, um sich zu beherrschen. Ihr ganzer Körper vibrierte, so rätselhaft gleichmäßig wie das Smartphone in der Hand. „Ach Antonia“, hörte sie Martas Stimme, noch immer auf das Display starrend. „ich habe es ganz vergessen – gib deine Karte beim Security-Mitarbeiter ab.“

Titelbild: Pixabay/Angelo Esslinger

Kulturjournalismus braucht deine Hilfe!

Wer meine Arbeit unterstützen möchte, kann es via Überweisung oder Paypal tun. Herzlichen Dank!

Überweisung:

IBAN: DE85 1203 0000 1033 9733 04
Verwendungszweck: Spende

Spende via Paypal

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert