Journalistisches Wahrheitsspiel

Eine Kurzgeschichte

„Aber es waren viel mehr“, sagte Michael zum Chefredakteur. „Bestimmt drei- oder vierhundert Tausend. Das hat mir unser Reporter gerade bestätigt.“

„Das ist mir egal. Wir nehmen die Zahl, die der Polizeipressesprecher gerade getwittert hat. 17.000 und gut ist. Und schreib es so, dass sie nicht gut wegkommen. Wenn du es gut machst, gibt’s vielleicht eine Festanstellung.“

Michael nickte devot und machte sich an den Artikel. „In Berlin haben sich an diesem Samstag rund 17.000 Demonstranten versammelt, um …“ Er brach den Satz umgehend ab. Demonstranten klang neutral, aber das würde der Chefredakteur niemals abnehmen. Es musste ein wertender Begriff sein, so etwas wie Corona-Leugner oder Covidiot. Das verstieß zwar gegen die journalistischen Gebote, aber in solchen Zeiten war kein Platz für Moralismus. Das bläute ihm der Chefredakteur ständig ein. „Wenn wir neutral über sie berichten, wächst die die Bewegung schneller, als uns allen lieb ist“, sagte er. „Und dann ist die Kacke am Dampfen, mein Lieber.“

Michael konnte die Demonstranten genauso wenig leiden wie der Chefredakteur, nur vielleicht nicht aus den gleichen Gründen. Für den waren sie tatsächlich Menschen, die das Virus leugneten; Rechte, die die Gunst der Stunde nutzen wollten, um die Massen gegen die Regierung aufzuwiegeln. Michael sah in ihnen bloß Unvernünftige, die andere gewissenlos in Gefahr brachten. Mit dem Virus war nicht zu scherzen, wie er vor zwei Wochen selber schmerzlich erfahren musste. Fünf Tage lag er flach und konnte sein Bett nicht verlassen, so sehr plagten ihn Fieber und Husten. Noch einmal wollte er das nicht durchmachen, nicht wegen solcher Leute. Covidiot war vielleicht zu stark, aber Corona-Leugner passte wunderbar: schwächer im Ausdruck, aber wirkmächtiger in der Assoziation. „In Berlin haben sich an diesem Samstag rund 17.000 Corona-Leugner versammelt“, korrigierte er seinen Leadsatz, „um gegen die Corona-Maßnahmen zu protestieren.“ Ach Quatsch, „gegen die Corona-Maßnahmen“ klang zu demokratisch. So würden sie als eine zivilgesellschaftliche Bewegung erscheinen. Sie mussten wie Populisten aussehen. Michael spürte, wie er an der Diffamierung immer mehr Gefallen fand. „In Berlin haben sich an diesem Samstag rund 17.000 Corona-Leugner versammelt, um ihren Frust und Ärger auszulassen.“ Das klang besser, um einiges aggressiver und unsympathischer. Er musste sie so darstellen, als hätten sie eigentlich kein politisches Anliegen, sondern nur Freude am Krawall. „Die Stimmung war zunächst ruhig“, setzte er seinen Artikel fort, „schlug aber nach einer halben Stunde in Aggression um.“ Ja, das würde dem Chefredakteur gefallen. Michael spürte, wie er grinsend seine zwei Anfangssätze bestaunte. „Als der kleine Aufzug sich in Bewegung setzte, flogen die ersten Flaschen in Richtung Presse.“ Davon hatte ihm sein Reporter zwar nicht berichtet, aber es war doch nicht ausgeschlossen. Wie oft sah er bei solchen Veranstaltungen Flaschen fliegen. Bei der letzten Demonstration sah er mit eigenen Augen, wie die Antifa sogar mit Steinen warf. Diese galten zwar den Corona-Leugnern, aber das könnte man ja umdrehen. Michael sympathisierte sowieso mehr mit der Antifa als mit ihn – diesen, ja Corona-Leugnern eben. Das war wirklich eine wunderbare Bezeichnung für so einen Artikel. Er war stolz auf seine Wortschöpfung und fühlte sich wie jemand, der gerade Blut geleckt hatte. Plötzlich sprudelte es nur so aus ihm heraus. „Die Polizei musste mehrere Gewalttäter festnehmen“, schrieb er weiter. „Einige von ihnen wehrten sich mit Tritten und Fausthieben, konnten aber von den Beamten überwältigt werden. Laut Beobachtern sollen an der Demonstration führende Figuren aus der rechtsradikalen Szene teilgenommen haben. Andere gaben sich als Verschwörungstheoretiker zu erkennen, indem sie entweder Aluhüte trugen oder Schilder hochhielten, auf den Sprüche wie „Keine Macht der Plandemie“ oder „Glaube keinem Wirrologen“ standen.“ So ähnlich hatte es der Reporter ihm durchgegeben, wie Michael sich zu erinnern glaubte. Wirrologe oder Wirrolügner war das Wort, dass er gebrauchte. Wirrolügner klang eigentlich noch besser, noch verfänglicher. Er strich Wirrologe und ersetzte es, um dann freudig fortzufahren. „Auf Anfrage, wogegen sie eigentlich protestierten, konnten manche Teilnehmer keinen einzigen geraden Satz äußern. Die Antworten hörten sich allesamt an wie ein unverständliches Geschwurbel aus dem Mund verwirrter Wutbürger, die weniger dem Verstand als Emotionen folgen.“ Wie war die Veranstaltung eigentlich ausgegangen? Dazu hatte ihm der Reporter nichts gesagt. Michael griff zum Telefon und wählte dessen Nummer. „Kai, grüß dich. Nur ganz kurz. Ich habe vergessen zu fragen, wie die Demonstration endete. Gab es Krawall oder einen Wasserwerfereinsatz?“

„Nein, sagte Kai. Es war alles friedlich.“ Hmm, überlegte Michael. Das war zu schwach. Er brauchte etwas Spektakuläres, etwas, das für Aufregung sorgte. „Hat denn die Polizei die Veranstaltung beendet und die Leute des Platzes verwiesen?“ Daraus ließe sich ein Konflikt bauen, überlegte Michael.

„Beendet? Puh, schwierig zu sagen. Es war ungefähr 19:00 Uhr, als sich die Menge auflöste. Aber die Demonstration war ohnehin bis zu diesem Zeitpunkt angemeldet.“

„Hat die Polizei ihnen wenigstens Beine machen müssen. Weigerten sich einige, den Platz zu verlassen?“

„Was heißt weigern? Einige blieben länger auf dem Platz, ja.“

Es war wenig, aber immerhin. Ihm würde schon etwas einfallen. „Alles klar, das reicht mir. Danke dir, Kai!“

Michael ging kurz in sich und fing an zu schreiben. „Die Lage blieb bis zum Ende angespannt. Die Polizei musste die Veranstaltung auflösen und die Teilnehmer am Ort der Abschlusskundgebung des Platzes verweisen, um die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten. Viele Corona-Leugner ließen nicht mit sich reden und provozierten die Beamten weiter. Ihr Einsatz dauerte länger als geplant, verlief aber erfolgreich. Ihm ist es zu verdanken, dass die Situation nicht außer Kontrolle geriet.“ Sobald Michael das letzte Wort getippt hatte, erhob er sich schwungvoll von seinem Stuhl und stützte sich mit den Händen auf dem Tisch ab, um näher an den Bildschirm zu kommen. Dann fing er seinen Artikel zu lesen an, laut und mit Betonung an den richtigen Stellen. Das Adrenalin bewegte sich noch immer in seinen Venen. Während er die Sätze prononciert aussprach, schwächte sich das Hochgefühl ab. Nun meldete sich sein Gewissen. Es wurde stärker und stärker, fing an, ihn zu plagen. Er fühlte sich wie jemand, der nach einem Kreativrausch wieder nüchtern wurde und höllische Kopfschmerzen hatte. Noch in der Mitte des Artikels begann er, nach jedem Satz die Lektüre abzubrechen und in Gedanken zu versinken. Er folgte seinen Assoziationen, empfand Schuld und Scham. Der Artikel war nicht so geschrieben, wie man es ihm in der Journalistenausbildung beigebacht hatte. Von einer objektiven Darstellung konnte hier nicht die Rede sein. Im Gegenteil: Er hatte die Fakten bewusst verdreht, er ließ sich von seinen Gefühlen treiben. Das passiert in letzter Zeit oft – zu oft. „Wir müssen in den Artikeln unsere Haltung durchschimmern lassen“, hing ihm der Chefredakteur täglich in den Ohren. „Die Leser müssen sofort sehen, dass wir progressiv sind, dass wir zu den Guten gehören.“ Michael orientierte sich an diesen Aussagen und wollte es sich mit dem Chefredakteur nicht verscherzen. Sonst würde es nichts mit der Festanstellung. Irgendwann musste es doch vorankommen im Leben. Er konnte ja nicht ewig als freier Mitarbeiter herumkrebsen.

Bei diesem Gedanken erschrak Michael über sich selbst, weil ihm klar wurde, dass er sich verkaufte. Er bildete nicht das ab, was war, sondern das, was sein Chefredakteur sich wünschte. Konnte er überhaupt noch objektiv schreiben, fragte er sich, oder hatte er es schon längst verlernt. Wie würde dieser Artikel klingen, wenn man die Wertungen rausließe? Michael wollte es herausfinden. Er wollte sich beweisen, dass er das journalistische Handwerk noch beherrschte. „In Berlin haben sich mehrere Hunderttausend Demonstranten versammelt, um gegen die Corona-Politik zu protestieren“, lautete jetzt sein Leadsatz. „Der Umzug begann Unter den Linden, ging durch Kreuzberg und endete am Roten Stern, wo eine Abschlusskundgebung mit mehreren Rednern stattfand. Die Stimmung war friedlich. Viele Demonstranten hielten rote Herzluftballons und Transparente, auf denen die Maßnahmen als zu hart bezeichnet wurden. Es gab aber auch Teilnehmer, die von einer ‚Plandemie‘ sprachen oder die Virologen der Lüge bezichtigten. Das Publikum war sehr bunt und stellte den Querschnitt der Gesellschaft dar. Die Veranstaltung endete um 19:00 Uhr. Daraufhin begaben sich die meisten Teilnehmer nach Hause.“ Michael ging den Artikel durch und bemerkte, dass er die Mundwinkel immer weiter zu einem Lächeln zog. Er konnte es also noch, er hatte es nicht verlernt. So musste ein objektiver Artikel aussehen, so und nicht anders. „Bist du fertig?“ Der Chefredakteur öffnete stürmisch die Tür und nahm eine Haltung ein, die Michael zu verstehen gab, dass er große Erwartungen hatte.

„Ja, gerade den letzten Satz getippt.“

„Sehr schön, Michael. Du bist schneller geworden. Dann zeig mal her.“

Michael überlegte lange, welchen Text er ihm geben sollte. „Soll ich ihn dir ausdrucken?“

„Ja selbstverständlich. Ich will ihn sofort lesen.“

„Moment, ich muss hier etwas checken. Der Drucker funktioniert in letzter Zeit nicht so gut“, log er, um Zeit zu gewinnen. Wenn er ihm den ersten Artikel geben würde, wäre er ein Dienstleister, mehr Texter als Journalist. Er würde einen Text abliefern, den er nach den Vorgaben des Auftraggebers geschrieben hatte. Der zweite Artikel war tatsächlich etwas, was den Namen Journalismus verdient hätte. Aber er würde dem Chefredakteur nicht gefallen, das wusste Michael. Wenn er ihn abgeben würde, wären seine Chancen auf eine Feststellung dahin. „Ich bin gleich soweit“, sagte Michael.

„Na hoffentlich. Der Artikel muss gleich raus. Wir sind ohnehin spät dran.“

Michael fühlte, wie seine Entscheidungskraft mit jeder Sekunde schwand. Von seiner Antwort hing seine Zukunft ab. Er wollte doch jemand sein, ein großer Journalist. Vielleicht musste er jetzt durch diese Situation durch, um später journalistisch aufzublühen. Das gehörte zu diesem Beruf dazu. Er leistete sozusagen Lehrgeld, so musste er es sehen. Und die Demonstranten, na gut. Sie waren ja wirklich unvernünftige Gefährder. Eigentlich war Corona-Leugner doch die perfekte Bezeichnung für sie. Ihretwegen musste er sich nun wirklich nicht opfern. Wenn er nicht so einen Artikel schriebe, dann täte es ein anderer. So funktionierte das Journalistengeschäft. Wer war er schon, um hier den Helden zu spielen. „So, jetzt sollte es klappen“, sagte er zum Chefredakteur. Der Drucker spuckte das Blatt geräuschvoll aus, sodass Michael es nur noch weiterzureichen brauchte.

„Na endlich“, sagte der Chefredakteur und fing an zu lesen. „Nicht schlecht, nicht schlecht“, kommentierte er. „Hoho, Corona-Leugner! Spitze, Michael! Das hätte ich dir ja gar nicht zugetraut.“ Mit jeder Zeile, die er las, drückte sich in seinen Mundwinkel mehr und mehr Zufriedenheit aus. „Wunderbar“, sagte der Chefredakteur, bevor er Michaels Büro verließ. „Erstklassige Arbeit, wirklich. Sieh es als dein Gesellenstück an. Du bist nun bereit.“

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