«Der freie Mensch» – Eine Neuauflage von Ayn Rands Hauptwerk

1957 veröffentlichte die Philosophin und Schriftstellerin Ayn Rand ihr belletristisches Hauptwerk «Atlas Shrugged», einen Roman, der in den USA zu den einflussreichsten politischen Büchern des 20. Jahrhunderts zählt. Was ihn so brisant macht, ist die im fiktionalen Gewand aufgeworfene Frage, inwieweit der Staat in Wirtschaft und Sozialwesen eingreifen darf. Nach Rand – überhaupt nicht. Aber sie geht noch weiter: Staatliche Eingriffe seien unmoralisch, nicht nur weil sie die Menschen an einer freien Entfaltung hindern, sondern ungünstige Bedingungen schaffen, sich mit Ressourcen, Gütern und Dienstleistungen versorgen zu können.

In dieser Aussage liegt schließlich der Romantitel begründet. Auf Deutsch lässt er sich mit «Atlas zuckte mit den Schultern» übersetzen. Es handelt sich dabei um eine Anspielung auf den berühmten Titanen in der griechischen Mythologie, der das Himmelsgewölbe auf seinen Schultern trägt. Auf die Realität bezogen repräsentiert Atlas die vielen fleißigen, innovativen und selbstbestimmten Menschen, die den Kreislauf einer Gesellschaft am Leben halten. Sie fungieren als tragende Stütze eines funktionierenden Gemeinwesens. In Rands Roman sind es vor allem die Unternehmer, weshalb er die Leser mit der Frage konfrontiert, was passieren würde, wenn diese tragenden Menschen der Gesellschaft plötzlich verschwinden. Damit das nicht geschieht, so Rands Idealvorstellung, soll sich der Staat zurückhalten. Sie spricht sich für einen strikten Laissez-faire-Kapitalismus aus, der für die Entwicklung einer Gesellschaft förderlicher sei.

Die Hauptfigur Dagny Taggart

Deshalb wirkt der Titel «Der freie Mensch», unter dem der Roman in diesem Jahr neu aufgelegt wurde, weitaus treffender als «Der Streik», wie er in der ersten Übersetzung von 2012 hieß. Als handlungstragende Hauptfigur agiert Dagny Taggart, Erbin einer transkontinentalen Eisenbahnlinie, die sich gegen den Verfall der amerikanischen Wirtschaft stemmt und ihr eigenes Unternehmen gründet. Sie verkörpert gewissermaßen den freien Menschen. Sie denkt selber, sie handelt selber und sie fühlt selber. Vor allem aber folgt sie ihren eigenen Prinzipien, die sich von denen ihres Widersachers im Buch deutlich unterscheiden. Dieser ist kein Geringerer als ihr Bruder James. Anders als Dagny, die Egoismus als Tugend betrachtet, hält er die soziale Verantwortung hoch. Doch dieses Motto erweist sich schnell als Deckmantel, unter dem James daran arbeitet, die Unternehmer zu enteignen und einen sozialistischen Volksstaat einzuführen.

Anhand dieser fiktionalen Geschichte hat Ayn Rand ihre Philosophie des Objektivismus entwickelt, die den Verstandesgebrauch im Streben nach dem höchsten Wert zu einem ethischen Grundprinzip erklärt. Es ist jedoch nicht nur der gedankliche Reichtum, der «Der freie Mensch» zu einem erstklassigen Werk macht. Der Roman besticht unter anderem durch das große Figurenensembel, poetische Beschreibungen und realistische Dialoge. Viele von ihnen finden in den Büros mächtiger Unternehmer statt, auf Vollversammlungen, Konferenzen oder Partys der High Society. Durch solche Auftritte gewinnen die Figuren an Kontur und erweisen sich als mehrdimensionale Charaktere, die auf ihre Weise einzigartig wirken. Eine gewisse Seelenverwandtschaft sieht Dagny in dem Stahlindustriellen Hank Rearden, weshalb sie sich zu ihm hingezogen fühlt und schließlich eine Affäre beginnt.

Tragende Säulen der Gesellschaft

Das Paar gehört in dem Roman zu den aufbauend Schaffenden, denen zerstörerische Plünderer gegenüberstehen – eine Gruppe mächtiger Männer, die, wie Dagny vermutet, viele Unternehmer dazu bewegen, ihr Geschäft aufzugeben. Aus diesem Konflikt ergibt sich die Spannung, die den Roman so interessant macht. Was passiert, wenn die treibenden Kräfte einer Gesellschaft verschwinden? Ayn Rand gibt darauf eine literarische Antwort, in der nicht nur ihr Optimismus mitschwingt, sondern auch die Überzeugung, dass Fortschritt nur dann möglich ist, wenn die Individuen ihre eigenen Interessen ausleben und sich nicht von einem Kollektiv vereinnahmen lassen.

Wer sich die Geschichte von Dagny Taggart zu Gemüte führt, findet schnell Parallelen zur Gegenwart der Corona-Politik, die dafür sorgt, dass viele mittlere und kleinere Unternehmen ihre Existenzgrundlage verlieren. Mit ihnen verliert aber auch die Gesellschaft ihre tragende Säule, wie der «Der freie Mensch» zu vermitteln versucht. Diese Denkfigur ist es, die Rands Hauptwerk zu einem zeitlos aktuellen Roman macht.

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