Treffen unter Freunden

Eine Kurzgeschichte

„Schnell, schnell, schnell“, begrüßte sie Jens mit einem kurzen unterdrückten Lachen. Gabi und Florian huschten in seine Wohnung und schlossen die Tür hinter sich. „Hat euch auch wirklich keiner gesehen“, fragte Jens.

„Ich glaube nicht“, antwortete Florian. „Ich fühle mich wie ein Krimineller.“

„Es ist so aufregend“, sagte Gabi. „Seht mal, wie meine Hände zittern.“ Sie kicherten und umarmten sich innig. „Es tut so gut, euch zu sehen“, sagte Jens. „Die letzten zwei Wochen waren die Hölle. So einsam habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt. Ich hätte nie gedacht, wie quälend zwei Wochen sein können ohne Gesellschaft. Absolut irre!“

„Das kann ich mir vorstellen“, entgegnete Florian. „Wir sind wenigstens zu zweit. Aber selbst uns hat es gereicht.“

„Wir haben uns noch nie so viel gestritten wie im Lockdown“, sagte Gabi und lachte herzlich auf. „Ich wette, es gehen gerade reihenweise Beziehungen in die Brüche. In ein paar Jahren wird das Wort Lockdown-Scheidung bestimmt im Duden stehen.“

„Pssst, nicht so laut. Meine Nachbarn dürfen uns auf keinen Fall hören. Sie haben so eine Riesenangst, dass sie die Wohnung nicht verlassen – und wenn, dann mit zwei Masken. Ungelogen.“

„Ja, wir haben auch solche im Haus“, sagte Gabi. „Wenn sie uns sehen, gehen sie sofort auf Abstand, bestimmt fünf oder sechs Meter. Um sich ja nicht anzustecken.“

„Was Angst aus Menschen macht, nicht wahr? Aber lass uns doch etwas trinken. Das muss gefeiert werden.“ Jens holte aus der Küche eine Sektflasche und drei Gläser. Als er den Korken knallen ließ, flog dieser an die Lampe, die ihn in Richtung Spiegel ableitete. Alle drei brachen in ein Gelächter aus. Jens versuchte, sich den Mund mit der Hand zu bedecken. „Oh Gott, das hören sie bestimmt“, zeigte er nach oben. „Cheers“, stieß Florian an. „Auf unser Wiedersehen. Das tut so gut.“

„Du sagst es“, stimmte ihm Jens zu und trank das ganze Glas in einem Zug. „Ein Tag länger, und ich wäre wahnsinnig geworden.“ Er wollte gerade nachschenken, als es an der Tür klingelte. „Nein, das ist jetzt nicht ihr Ernst.“

„Unglaublich. Wir sind nicht einmal fünf Minuten hier.“ Gabi rollte mit den Augen.

„Ich sag’s euch, wer solche Nachbarn hat, braucht keine Feinde. Los versteckt euch im Schlafzimmer. Ich wiegele sie schnell ab.“ Als er die Tür öffnete, machte er ruckartig einen Schritt nach hinten. Seine Zunge war plötzlich wie gelähmt. „Guten Tag“, sagte einer der Polizisten. „Uns wurde mitgeteilt, dass Sie hier eine Party feiern. Ist das richtig?“

„Party, äh, nein. Nicht dass ich wüsste …“

„Keine Party also. Dürfen wir reinkommen“, fragte der Polizist und betrat Jens’ Wohnung, ohne dessen Antwort abzuwarten. „Sind Sie alleine hier?“ Jens befand sich in einem Dilemma. Sollte er lügen oder ehrlich sein? Eigentlich hasste er es, nicht die Wahrheit zu sagen. Aber da waren noch Gabi und Florian. Er trug auch für sie Verantwortung. Sie würden möglicherweise ebenfalls eine Anzeige bekommen. Das konnte er nicht riskieren. Er musste ausnahmsweise lügen. Die Polizisten würden schon nicht seine ganze Wohnung durchsuchen; das traute Jens ihnen nicht zu. „Ja, ich bin ganz alleine hier.“

„Sicher? Fragte der Polizist. Er musste von den beiden der Wortführer sein. Der andere hatte bislang artig geschwiegen. Jens überlegte, ob ihn jetzt das Spiel «Böser Bulle, guter Bulle» erwartete. „Also Ihre Nachbarn erzählten uns, dass Sie Besuch von zwei Personen bekommen hatten“, sagte nun der andere. Er schaute Jens finster an und stand stramm da wie ein Soldat, der gerade den Befehl bekommen hatte, den Gefangenen in die Mangel zu nehmen. Das müsste der böse Bulle sein, dachte Jens. „Stimmt das“, schrie der Polizist auf.

„Die Nachbarn …“ Jens wusste nicht, was er sagen sollte. „Was haben die Nachbarn denn noch so erzählt?“

„Das erfahren Sie noch früh genug“, entgegnete der böse Bulle scharf. „Stimmt das? Haben Sie Besuch von zwei Personen bekommen?“ Jens hielt kurz inne. In solchen Situationen fühlte er sich unwohl, empfand eine Unsicherheit, die für ihn untypisch war. Sein Herz schlug schneller und schneller. Er spürte die Schläge immer heftiger werden und glaubte, dass sie auch die Polizisten hören mussten. Vielleicht sollte er doch die Wahrheit sagen. Was sollte ihnen schon passieren! Sie hatten sich zu dritt getroffen, was war schon dabei. Gerade nicht erlaubt, aber mein Gott – es gab Schlimmeres. Während Jens nachdachte, hörte er sich genau das Gegenteil sagen: „Äh, nein, das stimmt nicht. Meine Eltern kamen nur vorbei, um mir meine Jacke zurückzugeben. Die hatte ich mal bei ihnen vergessen …“

„So, so, ihre Eltern also“, unterbrach ihn wieder der strenge Polizist, ohne den Blick von ihm zu wenden. „Sind Sie da ganz sicher?“

„Äh, ja, ich kenne doch meine Eltern.“

„Das glauben wir Ihnen“, meldete sich nun wieder der andere Polizist zu Wort. „Ihre Eltern konnten ihren Sohn doch nicht ohne Jacke draußen herumlaufen lassen, nicht bei diesen Temperaturen. Und sicher ist einer von ihnen im Auto geblieben, um nicht gegen die Regel zu verstoßen. Denn Sie und Ihre Eltern wissen ganz gewiss, dass es momentan nur zwei Personen erlaubt ist, sich zu treffen. Habe ich Recht?“

„Jaaaa“, zog Jens seine Antwort in die Länge, mehr aus Verwunderung als aus Verlegenheit. „Das weiß ich – und meine Eltern auch.“

„Na also“, setzte der Polizist fort. „Ihre Eltern haben Ihnen die Jacke vorbeigebracht und sind wieder nach Hause gefahren. So war es doch?“

„So war es“, antwortete Jens, in der Hoffnung, die beiden Beamten wirklich überzeugt zu haben.

„Dann haben Sie sicherlich nichts dagegen, wenn wir uns in Ihrer Wohnung ein wenig umschauen. Reine Routine. Sie haben doch nichts zu verbergen, nicht wahr?“

Jens spürte, wie er nervös die Beinposition wechselte wie ein Boxer. Gabi und Florian dürften das Gespräch mitbekommen haben. Was dachten sie? Was würden sie an seiner Stelle machen? Sollte er das Versteckspiel jetzt beenden, bevor es noch peinlicher wurde? Ihm gingen tausende Fragen durch den Kopf, aber er fühlte sich zu unsicher, um eine Entscheidung zu treffen.

„Ich habe nichts dagegen. Aber mit Verlaub – Sie haben eigentlich nicht das Recht, meine Wohnung zu betreten. Nicht ohne Durchsuchungsbefehl. So ist das Gesetz. Es gilt noch immer die Unverletzlichkeit der Wohnung. Das ist ein Grundrecht.“

„Momentan sind die Grundrechte eingeschränkt“, schrie der böse Bulle ihn an. „Wir sind durchaus befugt, Ihre Wohnung zu betreten, wenn der dringende Verdacht besteht, dass sich darin mehr Menschen aufhalten als momentan erlaubt. Lesen Sie die aktuelle Infektionsschutzverordnung des Landes Niedersachen. Dort steht es schwarz auf Weiß.“

Jens war irritiert und konnte nicht anders, als den Polizisten mehrere Sekunden verdutzt anzuschauen. Sie mussten bluffen; es ging gar nicht anders. Es war ein Spiel, bei dem es nicht wirklich um Fakten ging. Gewinnen würde derjenige, der überzeugender auftrat. Jens musste die Strategie ändern, um sich zu behaupten. Er musste selbstbewusster werden und in die Offensive gehen. „Zeigen Sie mir bitte die Stelle“, forderte er die Polizisten auf. „Wenn Sie mir das wirklich belegen können, lasse ich sie durch meine Wohnung gehen.“

„Ich befürchte, Sie haben keine andere Wahl“, ergriff wieder der andere Polizist das Wort. „Wir sind diejenigen, die Forderungen stellen. Wenn wir Ihnen sagen, dass es so in der Infektionsschutzverordnung steht, dann ist das so.“

„Das ist Willkür“, schrie Jens. „Wir leben doch noch immer in einem Rechtsstaat.“

„So ist es“, pflichtete ihm der Polizist mit einem aufgesetzten Lächeln bei.

„Sie können nicht einfach auf irgendwelche Verordnungen hinweisen, ohne den Beweis zu erbringen. Ich möchte vorher meinen Anwalt anrufen.“

„Das können Sie gerne danach machen. Das steht Ihnen frei wie allen Bürgern dieses Landes. Aber jetzt müssen Sie erst einmal zur Seite treten und uns unsere Arbeit machen lassen. Schau doch mal nach, ob sich jemand in den anderen Zimmern befindet“, wies er seinen Kollegen an. Als er gerade den Flur entlang gehen wollte, sprang Jens ihm in den Weg. „Das dürfen Sie nicht“, protestierte er. „Bitte verlassen Sie meine Wohnung. Das ist Rechtsbruch.“

Der böse Bulle ergriff sofort seine Hand und drehte sie brachial zur Seite, sodass Jens mit schmerzverzerrtem Gesicht aufschrie. „Hören Sie auf, Sie tun mir weh.“

„Wir haben Sie gewarnt“, sagte der Polizist in aggressivem Ton und warf Jens auf den Boden, wo er ihm hinter dem Rücken Handschellen anlegte. Jens versuchte zu entkommen, räkelte sich und mobilisierte alle seine Kräfte. „Hören Sie auf, Widerstand zu leisten“, schrie ihm der Polizist ins Ohr und versetzte zwei Faustschläge in die Nierengegend. Jens schnappte nach Luft, stöhnte und stieß Geräusche aus, die klangen, als würde ein Tier verenden. „Lassen Sie ihn los“, hörte er Gabi schreien, die gerade aus dem Hinterzimmer hereintrat. „Das muss doch nicht sein; wir stellen uns ja. Meine Gü …“ Jens hörte das letzte Wort nur abgehakt. Unterbrochen wurde es von einem quietschenden Schmerzensschrei. „Hey, was soll denn das“, wahr jetzt die Stimme Florians zu vernehmen, der mit dem Polizisten zu ringen schien. Innerhalb von Sekunden lagen beide mit dem Kopf seitwärts zum Boden neben ihm. „Jetzt beruhigen Sie sich erst einmal“, sagte der vermeintlich gute Polizist. „Hören Sie auf, sich zu wehren, und es wird auch nicht so schmerzhaft.“ Jens vernahm ein krächzendes Geräusch, das aus dem Funkgeräte kommen musste. „Wir brauchen Verstärkung“, hörte er den Polizisten sagen. „Rominowstraße 7, dritte Etage, drei Personen in der Wohnung.“

„Lassen sie uns los; wir sind doch keine Verbrecher“, rief Jens, bevor er das Knie des bösen Bullen auf sein Genick drücken spürte. „Aua, aua“, versuchte er seinen Schmerz zu signalisieren, kam aber nicht weit, weil seine Stimme versagte. „Ich krieg keine Luft …“ brachte er noch heraus, bevor der Druck ihm die restliche Kraft raubte. Die nächsten Minuten fühlten sich wie Jahre an, wie ein Horrortrip in Trance. Alle Sinneseindrücke vermischten sich zu einer Kakophonie, die unerträglich war. Jens hörte mehrere Männerstimmen und fühlte zwei weitere Hände an seinen Schultern, die ihn hochhoben und in Richtung Ausgang schoben. Er sah die Wohnungstür vorbeirasen und das Treppenhausgeländer sich wie eine Schlange um ihn herum winden. Verschwommen näherte sich ihm das Polizeiauto mit leuchtendem Blaulicht, während im Hintergrund Gabis und Florians Schreie zu vernehmen waren. In zehn Meter Luftlinie hinter dem Wagen erblickte er seinen parkenden Toyota und glaubte den Nachbarn von oben zu sehen, wie er den hinteren Reifen durchstach. Die dunkle Gestalt flitzte sofort davon. „Da, dort …“, wandte er sich an die Polizisten. „Dort hat jemand meine Autoreifen durchgestochen.

„Mund halten“, hörte er einen Beamten sagen, der in diesem Moment Jens’ Kopf nach unten drückte und ihn auf den Hintersitz des Polizeiautos warf. „Das können Sie uns alles später erzählen.“

Titelbild: Pixabay/annca

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