Eine ganz normale Demonstration

Eine Kurzgeschichte

Er war froh zu Hause zu sein. Frank fiel ein Stein vom Herzen. Noch nie fühlte er sich hier so sicher. In seinem Kopf schwirrten noch immer die Bilder: unzählige Mannschaftsbusse, Einsatzwagen, Polizei zu Fuß, Polizei zu Pferde. Überall waren Sperrgitter aufgestellt, vor denen die Hundertschaft eine Kette bildete, bevor sie zu Tieren wurden, bevor sie zu treten begannen, bevor sie mit ihren harten Einsatzhandschuhen die Senioren verprügelten. Es war, als sähe er die Polizisten noch immer direkt vor sich, wie sie den Arm der alten Frau verdrehten, bis sie lauthals schrie, wutentbrannt und außer sich vor Schmerz. Aufgekratzt schaute er auf seine Hand. Sie war so angeschwollen, als hätte er einen Boxhandschuh an. Frank eilte zum Waschbecken, um kaltes Wasser aufzudrehen. Wie ein Verdurstender hielt er die Hand vor den dicken Strahl, hob sie gierig zum Hahn hoch, um den Druck zu spüren. Doch er spürte nichts. Dieser dreckige Bulle, dachte er nur. Wie konnte er nur den Knüppel ziehen. Frank war noch immer fassungslos. Er hielt doch nur ein Schild hoch, mehr nicht. Er sagte nicht einmal etwas; er schrie nicht, skandierte nicht den Ruf. Frieden, Freiheit, Selbstbestimmung – es war wie ein Ohrwurm, der jetzt noch nachhallte. Frank wollte ihn nicht mehr hören. Er wollte überhaupt nichts mehr hören, und vielleicht nie mehr jemanden sehen, nicht diese Massen, nicht diese Polizeiverbrecher, nicht dieses Volk, das völlig wahnsinnig geworden ist. Seine Gefühle steigerten sich ins Unermessliche, sie vermischten sich, nahmen Besitz von ihm, brandeten aus, fingen an, ihn zu quälen.

Während das Wasser weiter seine Hand kühlte, versuchte sich Frank zu erinnern. Sein Kopf fühlte sich wie Matsch an, sein Gehirn wie unter einer Glocke. Stand er schon am Brandenburger Tor, als die Wasserwerfer eingesetzt wurden? Er wusste nur noch, dass er Maria im Gedränge verloren hatte. Es brach Panik aus. Alle liefen, stießen, schrien. Er fühlte sich wie eine Flipperkugel. Dann kam das Wasser, regenartig und in großen Mengen. Irgendwann wurde es unangenehm. Auf einmal roch er Reizgas. Sie mussten es mit dem Wasser vermischt haben. Er versuchte zu fliehen, suchte nach einer Lücke. Dann der Schlag des Polizisten, mit dem Knüppel direkt auf seine Hand. Frank konnte sich nicht an den Anfangsschmerz erinnern. Er wusste nur, dass er vor Schreck erstarrte. Er suchte den Blick, konnte ihn aber hinter dem Helmvisier nicht erkennen. Dann tränten ihm die Augen. Das Gas nahm ihm zuerst die Sicht, dann das Gehör und dann den Verstand. Frank schrie nach Hilfe, setzte sich auf die nasse Bordsteinkante, um nicht hinzufallen. Dann ein weiterer Schlag, diesmal auf seinen Rücken, nicht so fest wie auf die Hand, aber doch schmerzhaft. Und dann noch einer. Er vernahm einen gedämpften Schrei, in dem er eine Aufforderung eines Polizisten zu hören glaubte. Ob es derselbe war, der seine Hand gebrochen hatte, fragte er sich jetzt, als die Knochen unter dem kühlen Wasser pochten. Die Schwellung nahm zu und wölbte die Haut. Es sah aus, als hielte er einen aufgeblasenen Luftballon.

Wo war Maria? Er musste sie anrufen. Aber oh Gott, wo war sein Smartphone? Frank durchsuchte mit seiner gesunden Hand die Taschen, etwas unbeholfen und hastig. Die Finger gruben sich tief hinein, tasteten grobschlächtig die Flächen ab. Aber das Handy war nirgends zu finden. Er wird es doch nicht im Gemenge verloren haben? Wie sollte er jetzt Maria erreichen? Wo war sie? War ihr etwas passiert? Er versuchte sich wieder zu erinnern. Sie stand zunächst noch bei ihm, als die Panik losbrach, hielt mit beiden Händen ihr Schild hoch. Dann kam der bärige Polizist und schlug ihr mitten ins Gesicht, so viel hatte Frank noch mitbekommen. Das war das letzte Mal, dass er sie sah. Danach nahm er nur wahr, wie zwei weitere Polizisten die Demonstranten wie Mehlsäcke jeweils zur Seite warfen, direkt in die Pfützen hinein. Sie lagen da wie aufgestapelte Leichen. Nie wird er diesen Anblick vergessen. Wie konnten sie mit ihnen nur so umgehen. Frank schüttelte den Kopf, noch immer aufgebracht und in Sorge um Maria. Lag sie vielleicht im Krankenhaus?

Frank wollte gerade wieder zum Smartphone greifen, erinnerte sich aber augenblicklich, dass er es verloren hatte. Was tun? Er tapste auf der Stelle, während das Wasser weiterlief. Die Hand sah übel aus. Mehrere Knochen mussten gebrochen sein, das war ihm klar. Eigentlich wäre es jetzt am sinnvollsten, ins Krankenhaus zu fahren. Dort würde er vielleicht auch Maria wiederfinden. Aber er hatte Angst. Nach dieser Machtdemonstration heute wollte er keine öffentliche Einrichtung mehr betreten. Sie waren ihm alle suspekt geworden, diese Speichellecker. Alle waren sie Handlanger dieses unmenschlichen Regimes. Im Krankenhaus würden sie ihm bestimmt die Hand amputieren, allein deswegen, weil er an der Demonstration teilgenommen hatte. Aus Rache sozusagen. Sie hassten ihn und alle, die gegen die Maßnahmen auf die Straße gingen. Die Medien hatten sie aufgehetzt, sie mit ihren üblen Hetzartikeln angestachelt, getriggert, manipuliert. „Covidioten“, hieß es, „Verschwörungsideologen“ und „Rechte“. Nein, freiwillig würde er ins Krankenhaus nicht mehr gehen. Im Leben nicht. Nicht heute, nicht morgen, nicht in naher Zukunft. Nicht, solange dieses unmenschliche Regime weiter wütete. Wie konnte sich die Polizei bloß so instrumentalisieren lassen? Zumindest einige Einsatzkräfte konnten doch sehen, dass die Demonstranten nicht auf Gewalt aus waren? Die Provokation ging doch von ihnen selbst aus, von den Behelmten mit Stock und Sprühdose. Er konnte sich noch an den Auftakt erinnern, Stunden vor dem Wasserwerfereinsatz. Da kam ein Polizist zu ihm und sagte unverblümt: „Verschwindet hier. Oder wir machen euch fertig.“ Frank sah noch immer dieses zornesrote Gesicht vor sich, die aggressiven Augen, die finstere Miene. Dann ging der Polizist wieder und drehte sich nach zwei Metern noch einmal um, mit erhobenem Zeigefinger, aber ohne etwas zu sagen. Das musste er auch nicht. Die Warnung sprach aus seiner Haltung. Sie wirkte wie eine Hiobsbotschaft, die von da an wie ein Schleier über der Menge schwebte.

Neue Bilder kamen in ihm hoch, kleine Erinnerungsfetzen, die aus der Versenkung wieder an die Oberfläche hochtrieben. Der innere Sturm wühlte sie auf, verstreute sie in alle Richtungen, so dass er Mühe hatte, sie geistig zu greifen. Er sah die bestimmt über 90-jährige Frau vor sich, mit dem Grundgesetz in der Hand. Sie hatte auf ihn einen enormen Eindruck gemacht. Wie sie da stand, furchtlos und würdevoll, selbst dann, als einer der Polizisten sie hinten am Haarschopf nahm und hinunterdrückte. Sie schrie nicht, trat nicht, sagte kein Wort. In ihren Augen funkelte weiterhin Stolz, der stärker war als dieser Rüpel. Er sah auch den kleinen Jungen, der bitterlich weinte, weil die Polizei gerade seinen Vater abführte. Die Hände hinter dem Rücken wie ein Schwerverbrecher wurde er in den Wagen geführt. Sein Sohn schrie nach ihm, ganz durchnässt und entsetzlich zitternd. In seinem Gesicht spiegelte sich eine unermessliche Qual. Dieses Gefühl der Verlassenheit und Machtlosigkeit sah Frank überall in der Menge. Alle liefen mit roten Augen umher, wie wildgewordene Hühner, die nur dem Impuls folgen, die nicht begreifen, was gerade vor sich geht.

Frank spürte lähmende Angst aufsteigen. Sie breitete sich im ganzen Körper aus, vergiftete sein Blut, narkotisierte alle Gefäße. Es fühlte sich wie eine Panikattacke an. Er schnappte nach Luft. Sein Herz raste. Mit zitternder Hand drückte er gegen die obere Brustgegend und fing an zu massieren, um gegen die Übelkeit anzukämpfen. Bestimmt würden sie ihn hier zu Hause aufsuchen. Sie würden ihn holen. Ihnen traute er alles zu, erst recht nach diesem Tag. Seine Gedanken sprangen blitzschnell hin und her, wechselten die Richtung, brachen ab, erhöhten das Tempo. Hastig griff Frank nach seinem Portemonnaie. Er tastete zunächst die linke Hintertasche seiner Jeans ab, dann die rechte. Es war nicht da. Hatte er es auf dem Tisch abgelegt? Frank eilte ins Wohnzimmer, um nachzuschauen. Nichts, bloß zwei ungeöffnete Briefe, aber kein Portemonnaie. Sein Atem stockte. Wieder tastete er seine Jeanstaschen ab, zunächst vorne, dann hinten, dann wieder vorne. Die Jacke, wo war die Jacke? Frank riss wuchtig die Schranktür auf. Er überlegte, ob er das Portemonnaie verloren hatte. In der Jacke war es nirgends zu finden. Der Polizist musste es ihm heimlich entwendet. haben? Das Geld war ihm egal. Aber in der Brieftasche lag sein Personalausweis. So würden sie direkt zu ihm finden. Sie würden hierherkommen und ihn verhaften, ihn quälen und so lange auf ihn einreden, bis er gestand. Aber was? Er hat doch nichts getan. Er nahm doch nur an einer Demonstration teil. Das war doch noch erlaubt, das war doch rechtens. Er hatte nichts verbrochen. Oder doch? Er war sich nicht mehr sicher.

Das schrille Klingeln an der Tür reiss ihn aus der Trance. Das mussten sie sein, schoss es ihm durch den Kopf. Sie sind tatsächlich gekommen, um ihn abzuholen. Was sollte er jetzt tun? Frank warf einen Blick zum Fenster, schaute auf die Uhr, griff wieder in die linke Hosentasche. Vielleicht war das nur ein Versehen, vielleicht sollte er etwas warten. Es klingelte nochmal. Seine Hände zitterten jetzt noch heftiger, und er musste sich konzentrieren, um nicht zusammenzubrechen. Plötzlich fing es an zu klopfen, erst leise, dann immer lauter und bestimmter. Frank spürte, wie sich seine Muskeln verspannten. Am liebsten wäre er jetzt aus dem Fenster gesprungen. Lieber tot als in ihren Händen. Vorsichtig und leise schritt er zur Tür. Das Herzrasen war schier unerträglich. Als er sie öffnete, glaubte er den Polizisten von vorhin zu sehen. Aber es war Maria. Mit geschwollenen Augen und zerzausten Haaren stand sie da, ausgelaugt, durchnässt und entkräftet. An der linken Wange klebte noch das verkrustete Blut einer riesigen Schramme. Frank bemerkte, wie ihm die Tränen kamen. Schluchzend fielen sie sich in die Arme. Sie waren wieder zusammen. Nur das zählte.

Titelbild: Pixabay/Rainhard Wiesinger

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