Die westlichen Staaten, das ist spätestens mit der Corona-Politik klar geworden, scheinen sich von demokratischen Werten zu verabschieden. Sie geben zwar vor, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit hochzuhalten, doch in der Praxis erweist sich diese Beteuerung als Lippenbekenntnis. In gewisser Weise lassen sich Parallelen zum Florenz des 15. Jahrhunderts ziehen, als der Stadtstaat nach knapp hundert Jahren nur noch die Fassade aufrechthielt, eine Republik zu sein. Zuvor blühte er demokratisch auf, ermöglichte freies Forschen und förderte humanistische Werte. Nachdem 1434 Cosimo der Ältere aus dem Exil zurückgekommen war, wurde Florenz zunehmend autoritär geführt und die Opposition unterdrückt. Weniger Jahre später entstanden schließlich Akademien, in denen autoritäre Ideologen die Richtung vorgaben.
Die Publizistin Barbara de Mars sieht darin eine Analogie zu heute und hat ein Buch geschrieben, das jene Phase der Republik ins Gedächtnis ruft. «Pratomagno», so der Titel, kommt als eine Mischung aus historischen Begebenheiten und gegenwärtigen Geschichten daher. Als Erzählerin fungiert ein halb fiktives, halb autobiografisches Ich, das in der Rahmenhandlung zu einer Wanderung an einer Bergkette aufbricht, nach der de Mars’ Buch benannt ist. Im Laufe dieses Ausflugs wird eine kleine Kulturgeschichte der Renaissance erzählt, wobei alle Fäden in der historischen Figur Poggio Bracciolini zusammenlaufen. Der Gelehrte aus Terrannuova gilt als einer der namhaftesten Vertreter des Humanismus, einer machtvollen geistigen Bewegung, die sich später über den größten Teil Europas ausbreitete. Im Zentrum stand die optimale Entfaltung der menschlichen Fähigkeiten, weshalb Bildung und Tugendhaftigkeit einen hohen Stellenwert genossen. Man orientierte sich an klassischen Vorbildern aus der Antike, las bedeutende Schriften, setzte sich mit Platon und Aristoteles auseinander und machte sich Gedanken, über die richtige Staatsführung.
Fundament unserer Kultur
Poggio Bracciolini leistete insofern einen großen Beitrag dazu, als er einige der bedeutendsten Werke wiederentdeckte und übersetzt, sodass sie der europäischen Geisteswelt zugänglich gemacht werden konnten. Angeregt wurde der Humanismus von dem Schriftsteller Francesco Petrarca, der einst auch eine literarische Wanderung zum Mont Ventoux unternahm. Sie greift de Mars in «Pratomagno» auf und erzählt darin, wie sich die Renaissance entwickeln konnte und welche Rolle dabei die Freiheit spielte. „Es geht um das Fundament unserer Kultur“, sagt sie. Die Leser machen Bekanntschaft mit einem ungeheuer riesigen Figurenensemble, bestehend aus mächtigen Akteuren jener Zeit, mit der Medici-Familie etwa, den vielzähligen Päpsten oder Fürsten, Königen und Kaisern wie zum Beispiel Sigismund aus dem Hause Luxemburg.
De Mars stellt dieses Geflecht anhand vieler ereignisreicher Episoden dar, mit Vor- und Rückblenden und in einer Sprache, die elegant von einem Schwerpunkt zum anderen übergeht. Zwischendurch lässt sie das Ich sprechen, das die Wanderung in der Zeit des ersten Lockdowns unternimmt: „Einkaufen durfte man nur mehr im Dorf, Spaziergänge und Joggen waren verboten, Restaurants geschlossen“, kommentiert es die Situation, um dann so kritisch wie scharfsinnig die geistige Haltung jener Periode zu beschreiben: „Alles wegen eines Virus und der Furcht davor und weil niemand wusste, ob er nicht selber infiziert war und andere ansteckte. Die Panik vor dem unsichtbaren Feind bekam irrationale Züge, Straßen wurden desinfiziert und wer weitab von anderen in der Natur gesehen wurde als ‚Andersdenkender‘ denunziert. Alle mussten gleich sein in der Furcht.“
Blütezeit in Florenz
Was hier in nur wenigen Zeilen skizziert wird, ist der Anfang vom Ende einer liberal-demokratischen Gesellschaft, wie sie in Florenz zwischen dem 14. Und 15. Jahrhundert existierte. De Mars bezeichnet dieses Zeitfenster als „Anything Goes“. Während das Bürgertum zunehmend selbstbewusster wurde und sich sowohl eigene Institutionen als auch eigene Regeln gab, machten kreative Köpfe bahnbrechende Erfindungen, die sich unter anderem in Kunst und Architektur zeigten. So wurde beispielsweise auf Landkarten das Dreidimensionale ins Zweidimensionale übertragen. In der Malerei gelang es Masaccio dadurch, die Perspektive realistisch abzubilden. Der Architekt und Bildhauer Brunelleschi schaffte es hingegen, die Domkuppel zu bauen. All das und vieles mehr, was in dieser Zeit der Renaissance geschah, lernen die Leser von «Pratomagno», indem sie einen Parcours voller Hügel aus dem Bildungskanon und ideengeschichtlicher Abzweigungen durchlaufen.
Das Aufblühen jener Zeit erklärt de Mars mit dem damaligen Machtvakuum und der Durchlässigkeit der Gesellschaft, was einen fruchtbaren Boden für Freiheit bildete. Deswegen habe auch ihre Held Poggio, „ein armer Hanswurst vom Lande, durch Bravour und Fähigkeiten zu einem geschätzten Freund von Päpsten und Regenten“ werden können. Nachdem dann die Medici das Florentiner Bürgertum einhegt hatten, begann schließlich ein langer, aber unaufhaltsamer Abstieg. Diesen erleben gerade auch die westlichen Staaten, weshalb sich die Lektüre von «Pratomagno» lohnt, um den eigenen Blick für die zivilisatorischen Bruchstellen zu sensibilisieren. Aus der Geschichte lässt sich viel lernen. Wer das tut, kann autoritäre Tendenzen auch früher erkennen – und ihnen möglicherweise schneller entgegenwirken.