GEZ-Gebühren, exorbitante Mieten und üppige Sozialversicherungsabgaben: Die Lebenshaltungskosten steigen in Deutschland seit Jahren. Neuerdings werden die Einkünfte zusätzlich von Inflation und hohen Energiepreisen aufgefressen. Sie befeuern das Risiko, sukzessive in die Armut abzurutschen. Selbst der Mittelstand ist davor nicht gefeit, wie ein Roman aus den USA veranschaulicht, der zwar nicht die jüngste Verteuerung in Europa thematisiert, aber auf authentische Weise darstellt, welche dramatischen Folgen ein Mix aus unglücklichen Umständen und persönlichen Entscheidungen haben kann.
In «Überfluss» erzählt Jakob Guanzon die Geschichte von Henry, einem noch jungen Mann aus dem Mittleren Westen, dessen Start ins Leben eigentlich als eine glückliche Fügung bezeichnet werden kann. Er wächst in einem akademischen Haushalt auf und genießt die Liebe seiner Eltern, die ihren Sohn zu fördern versuchen. Doch dann geraten die geordneten Verhältnisse aus den Fugen, als Henrys Vater zunächst als Lehrer entlassen wird und seine Mutter nach einer schweren Krankheit verstirbt. Der Sohnemann findet in diesem Strudel aus Trauer, Frustration, Aggression und Verbitterung keinen Halt, bricht die Schulausbildung ab und taucht immer tiefer in die Drogen-Szene ab. Sein Alltag ist geprägt von kleinen Delikten und Räuschen, die schließlich eine Haftstrafe nach sich ziehen und eine Therapie. Dort lernt er die an Bulimie leidende Michelle kennen, verliebt sich in sie und zeugt ein Kind mit ihr – im Buch „Junior“ genannt.
Zweiter Handlungsstrang
Erzählt werden diese Ereignisse in Rückblenden und aus der Perspektive des Protagonisten, den Guanzon meisterhaft charakterisiert, indem er Wahrnehmungs-, Denk- und Gefühlsprozesse authentisch beschreibt, in einer realistischen Sprache voller Jargon und Gossen-Metaphern. Mit ihr gelingt es, den Anti-Helden einerseits als einen klassischen Vertreter der Unterschicht und andererseits als individuelle Persönlichkeit zu figurieren, die mal zornig und unsympathisch erscheint, mal aber auch liebenswert wirkt. Während die Rückblenden Henrys Vorgeschichte ausrollen, zeichnet ein zweiter Handlungsstrang dessen Abenteuer in der Gegenwart nach. Die Lebensumstände des Protagonisten sind so schrecklich wie herzergreifend. Nachdem Michelle die beiden verlassen hat und Henry aus seinem Trailer vertrieben worden ist, lebt er mit seinem Sohn im eigenen Pick-up. Doch selbst der steht auf dem Spiel, wenn Henry die Familienkasse nicht bald wieder auffüllt.
Wie viel Geld den beiden zum Leben bleibt, wird als Titel eines jeden Kapitels angegeben. Der Betrag variiert ständig, reicht oftmals überhaupt nicht aus, kann aber auch mal die Kosten von Juniors Geburtstag decken, den das Duo ganz klassisch im McDonald’s feiert. Um die festliche Stimmung abzurunden, mietet Henry für beide ein Motel-Zimmer, wo sie zumindest in dieser Nacht in einem richtigen Bett schlafen. Obwohl die Aussichten auf einen Neuanfang gut aussehen, geraten die Dinge bald trotzdem aus dem Lot, sodass Vater und Sohn kämpfen müssen, zumindest ansatzweise in Würde zu leben.
Guanzons Abstiegsgeschichte verbindet so Themen wie Liebe und Freundschaft, Armut und soziale Ungerechtigkeit, garniert sie mit Kapitalismuskritik und subtiler Milieustudie. Obwohl die beschriebene Welt schockierend wirkt, wird der Ton nie larmoyant oder effektheischend. In der Darstellung liegt viel Empathie für die Figuren, aber auch großes Bewusstsein für deren Fehler. Der Erzählmodus changiert daher zwischen emotionaler Näher und Distanz, die der Autor häufig mit ironischen Formulierungen herstellt. Auf diese Weise bringt er die Leser nicht nur zum Nachdenken, sondern auch zum Lachen. Dieser Mix ist auch nötig, um die Herausforderungen der Gegenwart zu meistern und ein Schicksal wie das von Henry möglichst abzuwenden.