Lyriker Rudolph Bauer: „Für mich als Schriftsteller sind die Pandemie und der Krieg Provokationen“

Der Lyriker und Politikwissenschaftler Rudolph Bauer hat die Krisenzeit der letzten drei Jahre in einem Gedichtband verarbeitet. Er ist bereits der zwölfte aus seiner Feder und zieht einen Bogen von der Corona-Politik bis zum Ukraine-Krieg. Bauer versammelt darin verschiedenartige Gedichte, die sich nicht nur formal unterscheiden, sondern auch im Ton. Mal sind sie anklagend und ernst, mal satirisch und spielerisch. Im Interview mit kultur-zentner spricht der Lyriker über die Verantwortung von Schriftstellern, über seine poetologischen Grundprinzipien und darüber, was die beiden Krisen verbindet.


Herr Bauer, Sie haben kürzlich den Gedichtband «Von Covid-19 zu Putin-22» veröffentlicht. Der Untertitel lautet «Neue politische Lyrik». Können Sie das ein wenig erläutern? Was ist an dieser politischen Lyrik neu?

Neu im Sinn von aktuell sind die Themen der Gedichte: die Corona-Pandemie und der Ukraine-Krieg. Neu sind die Gedichte auch deshalb, weil sie in den Jahren 2020, 2021 und 2022 entstanden sind. Der Lyrikband ist schließlich insofern neu, weil ältere meiner Gedichtbände mit politischer Lyrik bereits existieren: aus dem Jahr 2010 der Band «Schutzschirmsprache» mit Cartoons von Lothar Bührmann; «Aus gegebenem Anlass», erschienen 2018, mit einem Essay zu «Aktualität und Utopie» von Thomas Metscher; sowie 2020 der Band «Zur Unzeit, gegeigt», illustriert mit eigenen Bildmontagen.


In dem Band schlagen Sie einen Bogen von der Corona-Krise zum Ukraine-Krieg. Was hält diese beiden Ereignisse zusammen? Wo liegt der gemeinsame Nenner?

Zunächst: Die Pandemie und der Krieg stehen in einer zeitlichen Abfolge; die Pandemie ging zu Ende, der Krieg begann. Letzterer wird territorial nach außen geführt, gegenüber einem äußeren Feind. Die gesundheits- und ordnungspolitische Bekämpfung des Virus erfolgte nach innen, gegenüber der Bevölkerung. Der Krieg nach innen war zugleich eine Zerreißprobe im Inneren der Gesellschaft. Wenn Sie sich an die innergesellschaftlichen Feindbilder und die Kriegserklärungen gegen die so genannten Corona-Leugner und Impf-Skeptiker erinnern, wird erkennbar, was ich meine: Die Menschen ließen sich wie Feinde in einem Krieg aufeinander loshetzen. Familien zerbrachen, Freundschaften wurden aufgekündigt.

Lyriker und Politikwissenschaftler Rudolph Bauer

Eine Verbindung paradoxer Art ergibt sich drittens auch unter dem Gesichtspunkt des Todes. Die Corona-Maßnahmen wurden vor dem Hintergrund von Nekrophobie, von Todesangst, begründet. Es galt, wenn wir uns erinnern, vulnerable Gruppen generell und bedingungslos vor einer Ansteckung und dem Sterben zu bewahren. Seit Kriegsbeginn herrscht hingegen eine militaristische Gewalt- und Vernichtungseuphorie. Wir erleben das Gegenteil von Nekrophobie: Die Propaganda des Sterbens ukrainischer Soldaten für „unsere Freiheit“ und die militaristische Propaganda des Heldentodes an der Front sind Zeichen einer tief verankerten Todessehnsucht und Nekrophilie.


Was hat Sie dazu bewogen, die Krisenzeit der letzten drei Jahre lyrisch zu verarbeiten?

Es gibt einen inneren Anstoß und einen äußeren. Letzterer lässt sich als professionelle Herausforderung umschreiben. Für mich als Schriftsteller sind die Pandemie und der Krieg  Provokationen, denen wir ausgesetzt sind. Auf diese Herausforderungen aufmerksam zu machen, auf sie zu reagieren, ihnen literarisch etwas entgegen zu setzen, darin liegt die Verantwortung der Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Von uns Autoren wurde und wird erwartet, Hinweise und Antworten zu geben auf die Fragen der Zeit und der Zukunft. Damit benenne ich zugleich auch den inneren Anstoß dessen, was mich bewegt. Nicht nur in der Rolle des Autors sehe ich mich herausgefordert, sondern zugleich als Mensch und politischer Zeitgenosse.

Durch die diktatorisch verfügten Corona-Maßnahmen wurde mein Recht auf Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit verletzt. Durch den Krieg wird mein und meiner Mitmenschen nacktes Leben und unsere Zukunft bedroht. Die lebensgefährliche und freiheitsberaubende Situation der Gegenwart literarisch zu verarbeiten, ist für mich persönlich ein befreiender Weg, heraus aus unserer persönlichen und kollektiven Bedrohung und psychischen Belastung durch Unterdrückung, Zerstörung und den Massenmord mit den Mitteln einer mit Atomwaffen ausgerüsteten Kriegsmaschinerie und todbringenden Vernichtungsorgie.


Eigentlich sind Sie Politikwissenschaftler. Literarisch konzentrieren Sie sich überwiegend auf Gedichte. Im Laufe der Jahre sind insgesamt zwölf Bände entstanden. Was reizt Sie an der Lyrik?

Als Wissenschaftler schreibe ich akademische Prosa. Ich verwende eine Fachsprache, ich bemühe mich um klare Definitionen, bin bestrebt, stimmig und rational zu argumentieren, ich beziehe mich auf andere wissenschaftliche Autorinnen und Autoren, muss auf Gegenmeinungen eingehen und sie widerlegen, verwende Fußnoten, erstelle eine Bibliografie, usw. Vor allem aber: Ein wissenschaftlicher Beitrag ist meist sehr lang, und er wendet sich in erster Linie an Fachkolleginnen und -kollegen.

Ein Gedicht ist kurz. Die Leserschaft ist gemischt. Das Gedicht verlässt die rein rationale Ebene. Es spricht Gefühle an, Emotionen, Unter- und Unbewusstes. Es hat einiges gemeinsam mit der Musik, dem Lied. Es wurzelt in einer kulturellen, literarischen, magisch-mythischen Landschaft. Es gibt das Wort von den Wissenschaftlern auf den Schultern von Riesen. Lyriker sind wie Maulwürfe. Oder wie die Sieben Zwerge, „die in den Bergen nach Erz hackten und gruben“. Als sie von der Arbeit nach Hause kamen, entdeckten sie das Schneewittchen – „tausendmal schöner“ als die ob deren Schönheit neidische Königin, die dem Schneewittchen deshalb nach dem Leben trachtete. Kurz: Im Gegensatz zu den Anstrengungen des wissenschaftlichen Erzhackens ist Lyrik eine Art Heimkehr – und die Entdeckung von Schönheit.


In Ihren Gedichten schreiben sie alle Wörter klein und setzen sich über Interpunktionsregeln hinweg. Warum? Hat das einen poetischen Grund?

Bei der Kleinschreibung ist es wie mit den Sieben Zwergen, die sich bei ihrer Heimkehr von der Arbeit fragten: „Wer hat auf meinem Stühlchen gesessen?“ „Wer hat von meinem Tellerchen gegessen?“ „Wer hat von meinem Brötchen genommen?“ „Wer hat mit meinem Messerchen geschnitten?“ „Wer hat aus meinem Becherlein getrunken?“ „Wer hat in mein Bettchen getreten?“ Sodann entdeckten die Sieben Zwerge das schlafende, wunderschöne Schneewittchen. Die Kleinschreibung und die Nichtbeachtung der Interpunktion erlauben gleichfalls überraschende Entdeckungen. Es gibt Wörter, die in ihrer Bedeutung wunderbar schillern: Zum Beispiel kann „band“, kleingeschrieben, das Imperfekt des Verbs binden sein.

Es kann aber auch (Klebe-)Band, (Stirn-)Band, (Buch-)Band, (Fließ-)Band bedeuten. Mit „fliegen“ kann das Verb für die fliegende Fortbewegung gemeint sein. Es kann sich aber auch um ein Subjekt, die Zweiflügler-Insekten, handeln. „fliege“ kann ein Befehl sein oder das Wort für eine zur Querschleife gebundene Krawatte, für einen Angelköder oder ein Sternbild am Südhimmel. „flügel“ ist ein Instrument oder der Flugapparat eines Vogels. „leiter“ meint eine (leitende) Funktion oder ein Gerät zum Besteigen und Überwinden von Höhenunterschieden. Ähnlich überraschende Entdeckungen semantischer Art kommen zustande, wenn die Interpunktion fehlt: Das kannibalische „wir essen jetzt opa“ ist die freundliche Einladung an den Großvater: Wir essen jetzt, Opa!


Am Ende Ihres aktuellen Gedichtbandes steht ein «Drosten-Dramolett», in dem der deutsche Virologen-Papst interviewt wird. Was wollten Sie mit diesem Stück zum Ausdruck bringen?

Der Virologe Drosten ist ein Schwätzer, der es zu Beginn und während der Pandemie verstanden hat, diejenigen, die seinen Ausführungen folgten, auf genial-teuflische Weise zu übertölpeln und einzulullen. Das Dramolett enthält viele Drosten-Zitate. Deren virologisch elegant verbrämte Hohlheit ist himmelschreiend. Das Dramolett spricht für sich. Mein Part als Autor ist der eines Dokumentaristen. Ich will nichts Eigenes zum Ausdruck bringen, um Ihre Formulierung aufzunehmen, sondern das Dramolett gibt der akademischen Arroganz, fachidiotischen Borniertheit und menschenverachtenden Selbstgerechtigkeit des Christian Drosten eine Bühne, sich eigenwörtlich zu entlarven als neo-klerikalen Inquisitor. Völlig zu Recht sprechen Sie vom Virologen-„Papst“, dem obersten Glaubenshüter.


Wer Ihre Gedichte liest, entdeckt einen Hang zu Ironie und Sarkasmus. Was gefällt ihnen an diesem Stilmittel?

Ironie und Sarkasmus sind nicht dasselbe. Sarkasmus ist Selbstschutz, eine Form der Verteidigung gegen die vielen Denunziationen und täglichen Zumutungen, mit denen wir misshandelt werden, um klein beizugeben, um aufzugeben, um das kritische Denken einzustellen, um freiwillig überzulaufen ins Lager derjenigen, die uns steuern, lenken, gefügig machen wollen. Wir sollen Untertanen sein und Sklaven werden. Diese antihumanistische Zumutung ist ein grober Klotz, auf den meine Gedichte mit dem gleichfalls groben Keil des Sarkasmus erwidern.

Ironie hingegen ist gewitzter Angriff, subtile Attacke, Opposition mit Nadelstichen, luzide Blendung. Ironie soll einerseits entlasten und andererseits Mut machen, die Verzweiflung vertreiben, utopisch sein, anregen zum Atemholen und zum Widerstand. Wenn man Ironie und Sarkasmus als Stilmittel betrachtet, wie es in Ihrer Frage zum Ausdruck kommt, lässt sich hier anmerken, dass in meinen Gedichten einerseits Form und Inhalt dergestalt zusammenfinden und sich ergänzen. Andererseits sind die Texte dialektisch zu verstehen. Sie widersprechen der Dystopie des finster Bestehenden, um den lyrischen Blick für eine menschliche und gute Zukunft zu öffnen.

pad-Verlag 2022. 76 Seiten; ISBN 978-3-88515-341-6; 6 Euro; Bestellungen per pad-Verlag@gmx.de

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