Berliner Mahnwache am Potsdamer Platz erinnert an die Nöte der Kulturschaffenden

Für Kulturschaffende ist die gegenwärtige Situation nur schwer zu ertragen. Seit über einem Jahr befinden sie sich in einer Art Schwebezustand, ohne zu wissen, wann sie ihren Beruf wieder ausüben dürfen. Theater, Museen oder Konzerthäuser – diverse Kultureinrichtungen müssen auf nicht absehbare Zeit ihre Pforten weiterhin geschlossen halten. Das zerrt am Nervenkostüm vieler Künstler. Sie leiden unter dieser Situation nicht nur finanziell, sondern auch psychisch. An ihre Nöte erinnert die Mahnwache für Kunst und Kultur am Potsdamer Platz in Berlin, eine Zusammenkunft von Menschen aus unterschiedlichen Richtungen, die jeden Mittwoch auf die desolate Lage von Musikern, Schauspielern, Kuratoren oder Tänzern aufmerksam machen.

Initiiert hat diese Veranstaltung die Kunsthistorikerin Carola Muysers. Als Betreiberin einer Agentur für kreative Unternehmen kennt sie sich in der Branche gut aus. Sie begleitet Künstler und hilft ihnen, Projekte zu realisieren. Seit der Corona-Politik und deren harten Maßnahmen lässt sich das aber nur schwer bewerkstelligen. Dass die Flaute länger andauern könnte als gedacht, zeichnete sich bereits am 18. November 2020 ab, als das neue Infektionsschutzgesetz im Eiltempo durch Bundestag und Bundesrat gepeitscht werden sollte. An diesem Tag meldete Muysers die erste Mahnwache vor dem Abgeordnetenhaus an. Später verlagerte sich die Versammlung auf den Platz vor der Akademie der Künste, wo sie genauso wenig Gehör fand wie am Ursprungsort.

Carola Muysers

Der entscheidende Tipp kam dann ausgerechnet von der Polizei. Die beaufsichtigenden Beamten rieten der Organisatorin, die Mahnwache für Kunst und Kultur am Potsdamer Platz abzuhalten, weil dort generell mehr Menschen vorbeigehen. Sie sollten Recht behalten. Seit dem Ortswechsel bekommt die Veranstaltung mehr und mehr Zulauf. Das Interesse wächst – sowohl bei den Künstlern als auch bei den Medien, auch wenn noch eher kleinere Sender und Nachrichtenportale über die Mahnwache berichten. Das Event lässt sich als eine Mischung aus kulturpolitischer Aktion und künstlerischer Darbietung charakterisieren. In den knapp vier Stunden am Nachmittag sind 50 Prozent der Zeit für Reden bestimmt, während die andere Hälfte mit Kunstdarbietungen gefüllt wird.

Das Programm auf der Mahnwache

Die Veranstaltung beginnt meist damit, dass Organisatorin Muysers das Publikum hinsichtlich der Corona-Lage auf den neuesten Stand bringt. Sie liest aktuelle Statements aus Politik und Kulturbranche vor, kommentiert Statistiken oder nennt Zahlen. Dafür studiert sie vorab die Veröffentlichungen sämtlicher Institutionen. Das können das Statistische Bundesamt, Kunstgewerkschaften oder der Kultur- und Musikrat sein. Muysers arbeitet sich regelmäßig in die Unterlagen ein, um bei ihren Auftritten auf der Mahnwache vorbereitet zu sein. Allerdings vermittelt sie nicht nur Informationen, sondern stellt auch kulturpolitische Forderungen. Zu ihnen zählt unter anderem die Entschädigung der Künstler. „Mittlerweile ist ein Defizit von 28 Milliarden Euro entstanden“, sagt sie. „Dieses Geld sollte zurückgegeben und gerecht verteilt werden.“ Auf der letzten Mahnwache am 5. Mai hat die Organisatorin gemeinsam mit den Anwesenden einen Notfonds für betroffene Künstler ins Leben gerufen, der auf einer Spendenplattform installiert wird. Einige mitfühlende Passanten entbehrten den einen oder anderen Euro gleich vor Ort.

Muysers und die teilnehmenden Künstler sprechen sich aber auch dafür aus, die Hygieneauflagen, die für mögliche Öffnungen im Gespräch sind, auf ein angemessenes Niveau zu bringen. So ist beispielsweise immer wieder von Testungen vor Besuchen diverser Kulturveranstaltungen die Rede. „Völlig irre“, findet die Organisatorin. „Als die Kinos, Theater und Konzerthäuser im letzten Sommer unter Auflagen offen waren, ging von ihnen keine Gefahr aus. Das ist mittlerweile erwiesen“, sagt sie. Es habe sich keineswegs um Superspreader-Events gehandelt. Sie verstehe, dass Maßnahmen notwendig seien. Allerdings sollten sie auf dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit beruhen.

Jazz-Musiker Werner S. Lang

Nicht weniger wichtig ist ihr der Austausch mit Andersdenkenden, weshalb sie ausnahmslos alle zu der Veranstaltung einlädt. Die Corona-Krise habe die Spaltung in der Gesellschaft befeuert. Der Riss gehe selbst durch Freundeskreis und Verwandtschaft. „Das muss aufhören“, sagt Muysers. „Wir sollten uns nicht gegenseitig beschimpfen, sondern einander zuhören. Der Dialog steht bei der Veranstaltung im Vordergrund. Sie bietet den Kulturschaffenden die Möglichkeit, sich auszutauschen und zu vernetzen. Allerdings sollte bei allem Ernst auch die Unterhaltung nicht zu kurz kommen, weshalb die Teilnehmer auf der Mahnwache die Gelegenheit erhalten, ihre Kunst darzubieten.

Werner S. Lang

Zu ihnen gehört unter anderem der Jazz-Musiker Werner S. Lang. Der Berliner Berufsmusiker spielt Swing, Jazz und Blues und tritt seit Jahren auf diversen Bühnen auf, ob nun solo oder als Mitglied der «Grooving Harmonists». Wenn er alleine performt, singt und spielt er Saxophon live und lässt sich von Halb-Playbacks begleiten. Mit diesem Programm «Sorano Solo – Sax & Voice» bringt er sich auch auf der Mahnwache für Kunst und Kultur ein. Für ihn stellt diese Veranstaltung momentan eine der ganz wenigen Möglichkeiten dar, vor einem Publikum auftreten zu können. Wie andere Teilnehmer steht er hinter der kulturpolitischen Agenda, versteht sich aber nicht als Aktivist, sondern als leidenschaftlicher Musiker. Als solcher braucht er die Atmosphäre einer Live-Performance. Lang vermisst die Interaktion mit den Zuhörern, den Applaus und die gute Stimmung. Er will regelmäßig spielen, so wie es sich für einen Musiker gehört.

Schauspielerin Vanessa Montserrat

Die Auftritte auf der Mahnwache am Potsdamer Platz verschaffen ihm in dieser für Künstler tristen Zeit eine gewisse Befriedigung. „Ich bin froh und dankbar, dass ich dort spielen darf“, sagt er. „Danach gehe ich immer mit einem schönen Gefühl nach Hause.“ So geht es auch der Schauspielerin und Synchronsprecherin Vanessa Montserrat. Ihr Metier ist eigentlich das Eventtheater. Vor der Corona-Krise tourte sie von Stadt zu Stadt und hatte sogar Engagements in Mexiko und Russland. Mit der Einschränkung der Bewegungsfreiheit hat sich auch ihr Betätigungsfeld reduziert. Neue Richtlinien wie regelmäßige Testungen machen es zudem schwer, an Rollen zu kommen. Wurde sie früher zum Vorsprechen eingeladen, muss sie heute überwiegend an E-Castings teilnehmen. Unter solchen Bedingungen macht ihr der Beruf nur halb so viel Spaß. Glücklicherweise erhält sie hin und wieder Aufträge als Synchronsprecherin.

Vanessa Montserrat

Die Mahnwache am Potsdamer Platz lässt sie Kraft schöpfen. Hier trifft sie Gleichgesinnte, Menschen, die es gerade genauso schwer haben wie sie. Mit ihrer Teilnahme will Montserrat ein Zeichen setzen. „Die Kulturszene ist vom Aussterben bedroht“, sagt sie. „Wir Künstler dürfen nicht vergessen werden.“ Sie beklagt, dass die versprochenen Finanzhilfen nicht greifen. „Viele haben sie gar nicht bekommen, andere müssen sie zurückzahlen. Das ist nicht in Ordnung.“ Zugleich nutzt sie die Veranstaltung, um sich als Sängerin auszuprobieren oder pointierte Passagen aus einigen Werken der Weltliteratur vorzulesen. Besonders beliebt sind George Orwells «1984» und Aldous Huxleys «Schöne neue Welt».

Lesungen, Vorträge, Spontanreden, Tanz, Musik und mobile Ausstellungen – die Mahnwache ist zu einer Kunstbühne geworden, ja zu einem Gesamtkunstwerk. Die Teilnehmerzahlen steigen, die Aufmerksamkeit ebenfalls. Selbst Star-Regisseur Dietrich Brüggemann, einer der #allesdichtmachen-Initiatoren, soll angekündigt haben, an einem Mittwoch vorbeizukommen. Wie lange die Veranstaltung fortbestehen wird, kann Organisatorin Muysers nicht sagen. „Ganz sicher endet sie dann, wenn die Ziele erreicht werden“, erklärt sie. „Es könnte aber auch sein, dass die Mahnwache in eine andere Form übergeht – in ein Festival zum Beispiel.“

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