Nur Verschwörungstheorien

Eine Kurzgeschichte

Paul quetschte die Palette mit dem Toilettenpapier in die Lücke. Das war schon das dritte Mal heute. Er wunderte sich, warum sich alle wie besessen darauf stürzten. Eine Ausgangssperre gab es noch nicht. Und obwohl der Einzelhandel seinen Betrieb größtenteils einstellen musste, waren die Supermärkte doch weiterhin geöffnet. Woher rührte bloß diese Panik, kein Toilettenpapier zu bekommen. Die Lagerbestände waren noch üppig; das wusste Paul. „Die gehen weg wie warme Semmel, nicht wahr“, hörte er seinen Kollegen Sebastian sagen. „Als wäre es Gold im Winterschlussverkauf.“

„Ich verstehe es auch nicht“, sagte Paul. „Aber es passt zu dieser verrückten Zeit. Ich kann es immer noch nicht glauben, dass sie alles dicht gemacht haben.“

„Ja, hätte ich auch nicht gedacht. Zum Glück nur für zwei Wochen. Aber wir bekommen davon ohnehin nicht viel mit. Hast du dir den Dienstplan angesehen?“

„Das wird nicht bei zwei Wochen bleiben; das sage ich dir.“

„Meinst du nicht“, fragte Sebastian etwas erschrocken.

„Natürlich nicht. Sie machen es mit der Salamitaktik; verlängern den Lockdown immer wieder aufs Neue, aber minimal, bis sich alle daran gewöhnt haben. Stell dir mal vor, sie hätten jetzt gesagt, dass das ganze öffentliche Leben ein halbes Jahr stillstehen wird. Dann wären die Straßen voll. Dann hätte es Radau und Plünderungen gegeben. So aber bleiben alle brav zu Hause und glauben, dass es schon bald zur Normalität übergeht.“

„Neue Normalität heißt es doch jetzt“, lachte Sebastian. „Aber du, Paule, das Video fand ich wirklich interessant, das du mir letztens geschickt hast. Von diesem Arzt. Wie heißt er nochmal? Woran? Wallarg?“

„Wodarg“, sagte Paul.

„Ja, genau. Wodarg. Wolfgang Wodarg heißt er doch, nicht wahr?“ Paul nickte.

„Aber er ist nur eine Stimme unter vielen. Es könnte doch sein, dass er danebenliegt – auch wenn es sich interessant anhört.“

„Er lag aber 2009 auch richtig, als mit der Schweinegrippe Panik verbreitet wurde. Wodarg war damals noch Politiker und nahm sich der Sache an. Dann stellte sich schnell heraus, dass die WHO ein korrupter Haufen ist, der eng mit der Pharmaindustrie zusammenarbeitet. Die vermeintlich gefährliche Schweinegrippe erwies sich dann als harmlos. So wie es Wodarg vorausgesagt hatte. Vielleicht ist ihm sogar zu verdanken, dass die ganze Angelegenheit zu einer Pandemie aufgebauscht wurde.“

„Mensch, Paule, meinst du, es ist gerade auch so? Ich meine, dass die Pandemie nur aufgeblasen wird.“

„Natürlich. Wäre es wirklich ein tödliches Virus, hätten wir es schon längst mitbekommen. Dann würden sich die Leichen auf den Straßen stapeln.“ Sebastian setzte sich auf die Palette und machte den Eindruck, in Gedanken zu versinken. Sein Blick war nach innen gerichtet. In seinem Gesicht spiegelte sich ein innerer Kampf, dessen Ausgang offenblieb.

„Wenn schon der Staat die Bürger zwingen muss, zu Hause zu bleiben, kann es sich nicht um ein gefährliches Virus handeln. Daran kann man erkennen, dass es keine Pandemie ist. Erst wenn die Menschen aus eigener Überzeugung, nicht auf die Straße gehen, ja dann handelt es sich wirklich um eine. Dann kann man davon ausgehen, dass ihnen das Virus Angst macht. So tut es aber nur der Staat – und die Medien natürlich.“

„Ja, das klingt plausibel, Paule.“

„Und wusstest du eigentlich, dass die Pandemiedefinition nach dem Schweinegrippe-Reinfall geändert wurde.“

„Wirklich,“ fragte Sebastian erstaunt. „Und wie? Wie wurde sie geändert? Die Definition meine ich.“

„Na vorher war die Anzahl der Toten entscheidend. Nach der Änderung wurde eine Pandemie nach Fällen bestimmt. Also nach Infektionen. Und so einen Fall kannst du schnell erzeugen, wenn du einen entsprechenden Test entwickelst.“

„Das ist ja hochspannend. Das habe ich alles nicht gewusst, Paule!“

„Du solltest dich mehr mit Wodarg beschäftigen. Er klärt über solche Sachen auf.“

„Wer? Wodarg“, brachte sich eine Kunde in das Gespräch ein. Er trug eine Medizinmaske und legte ein Duschgel in den Einkaufswagen, während er sprach. „Dieser Verschwörungstheoretiker?“

Paul konnte diesen Ausdruck nicht leiden. In den Medien war dieser gerade hoch im Kurs. Wer eine andere Meinung hatte als die offizielle, wurde als Verschwörungstheoretiker bezeichnet. Jede kleine Abweichung reichte aus, um die Abweichler als Spinner darzustellen. Um Argumente ging es dabei überhaupt nicht. Paul wusste schon, was der Kunde sagen, auf welche Quellen er sich stützen würde.

„Er ist kein Verschwörungstheoretiker, sondern Mediziner und ehemaliger Politiker“, sagte er schließlich und bemerkte, dass seine Stimme lauter geworden war. „Er hat also Ahnung von der Materie, ist also ein Experte“, schob Paul nach, demonstrativ siegessicher, als hätte er gerade einen Trumpf ausgespielt. Der Kunde brach in ein kurzes Gelächter aus. „Heute glaubt jeder, Ahnung zu haben. Ein Mediziner macht noch keinen Experten, sage ich immer.“

„Also auf mich wirkt er schon wie ein Experte“, entgegnete Sebastian. „Ich kannte ihn bis vor kurzem noch nicht. Aber er erzählt Sachen, die Sinn machen. Jedenfalls in dem Video, das mir mein Kollege hier geschickt hat.“

„Und was sagt er darin“, wandte sich der Kunde an Paul. Im Hintergrund lief Radiomusik, die Normalität suggerierte. Im Gang nebenan wuselten drei Kinder zwischen den Regalen und rasselten mit ihren Chipstüten. Paul spürte, wie in ihm schäumende Wut aufstieg. Er war auf die Provokation hereingefallen, obwohl er es hätte wissen müssen. Er suchte nach den richtigen Worten, um sie zu klaren Sätzen zu formen. Aber sie entglitten ihm wie glitschige Fische im Teich. Er musste ständig von vorne beginnen, und je länger er einen Satz zu bilden versuchte, desto weniger wusste er, was er eigentlich sagen wollte. Paul hätte am liebsten gegen den Einkaufswagen des Kunden getreten. Wie oft hatte er sich auf diese Situation vorbereitet! Wie hatte er im stillen Dialog einen solchen Schlagabtausch einstudiert! Er wusste, dass er nicht herumeiern durfte. Solche Leute würden es sofort als Schwurberlei auslegen. Das war ja das Tückische! Nicht sie waren in Erklärungsnot, sondern die Zweifler und Kritiker wie er selbst. Und auch nur, weil die Medien den Debattenraum zum Nachteil der Kritiker manipuliert und verengt hatten. Paul bemerkte, wie sein rechter Fuß baumelnd immer stärker gegen die Palette trat.

„Na dass Corona nicht schlimmer ist als eine Grippe“, antwortete er schließlich und biss sich sofort auf die Lippe.

„Dachte ich es mir doch. Das ist so ein Quatsch! Verschwörungstheorie, Humbug! Das sagen übrigens auch die Qualitätsmedien.“

„Ja? Was sagen sie denn“, fragte Sebastian und schien völlig verwirrt zu sein. Mit aufgerissenen Augen blickte er abwechselnd Paul und den Kunden an. Letzterer tippte auf dem Display seines Smartphones und scrollte mit dem rechten Zeigefinger hin und her. „Hier“, sagte er plötzlich. „Da steht es. ‚Arzt verbreitet Fake-News‘, schreibt der Spiegel. Oder hier: ‚Mediziner verstört mit kruden Verschwörungstheorien‘, ‚Gezielte Informationen über Facebook – Wer ist Wolfgang Wodarg?‘ So geht es weiter. Die FAZ, die taz, der Tagesspiegel – alle schreiben, dass er ein Verschwörungstheoretiker ist.“

„Moment“, hakte Sebastian nach. „Da steht aber nichts von Verschwörungstheorien, nur dass er Fake News verbreiten soll.“

„Und was sind Fake News deiner Meinung nach?“ Sebastian zuckte mit den Schultern.

„Verschwörungstheorien natürlich“, lachte der Kunde durch seine blaue Medizinmaske.

Paul versuchte sich an den Namen der Arte-Dokumentation von 2009 zu erinnern. Oder war sie von 2013. Dass er diese Details nicht kannte, gerade jetzt, als er sie so dringend brauchte. In der Doku wurde Wodarg doch noch wohlwollend behandelt und für sein aufklärerisches Engagement gelobt. Er musste den Kunden zumindest auf diese Dokumentation aufmerksam machen, wenn ihm schon keine griffigen Argumente einfielen, um den Fake-News-Vorwurf zu entkräften. Vielleicht würde der Kunde sie sich anschauen und begreifen, dass die gleichen Medien, die Wodarg jetzt diffamierten, ihn damals ernst nahmen. Aber wie hieß diese verdammte Doku? Normalerweise hatte er den Titel sofort parat. Wie oft hatte er ihn in Diskussionen gehört und selber erwähnt! Und jetzt, gerade in dieser Situation versagte sein Gedächtnis. Paul hätte schreien können. Er schluckte mehrmals. Beinahe wäre ihm eine Beleidigung ausgerutscht. Er spürte, wie er Gefahr lief, seine Beherrschung zu verlieren. In einem inneren Monolog sprach er das aus, was er dem Kunden jetzt gerne entgegengeschleudert hätte. Nur die Durchsage seiner Kollegin an der Kasse erinnerte ihn daran, dass er eigentlich auf Arbeit war. „Wie auch immer. Ich muss jetzt weitermachen“, war alles, was er herausbrachte, ohne den Kunden anzuschauen. Mit gesenktem Kopf griff Paul zum Palettenstapler und wollte ihn rausziehen, blieb aber mehrmals am Gehölz hängen. Die Nerven gingen mit ihm durch, das spürte er an seinen unkoordinierten Bewegungen. Verschwörungstheoretiker, wiederholte er schweigend.

„Mensch, Paul, du hast mir ein Video eines Verschwörungstheoretikers geschickt. Mach das bitte nie wieder. Ich habe keine Lust, meine Lebenszeit mit so einem Schwachsinn zu verschwenden.“ Sebastian sah verärgert aus.

„Es ist kein Schwachsinn“, ging Paul auf den Vorwurf ein, während er im Augenwinkel sah, dass sich der Kunde kopfschüttelnd entfernte.

„Natürlich ist es das. Ich habe doch die Schlagzeilen mit eigenen Augen gesehen.“

„Die Schlagzeilen“, wiederholte Paul. „Die Medien sind total auf Linie und beten nur die Regierungsnarrative nach.“

„Mensch, Paule, jetzt redest du selber wie ein Verschwörungstheoretiker. Willst du mir etwa sagen, dass die Medien gleichgeschaltet sind?“

„In gewisser Weise schon, aber nicht so, wie du es dir vorstellst. Es gibt keine direkten Vorgaben von oben. Die Gleichschaltung läuft eher subtil ab. Viele Faktoren spielen hinein.“

Verdammte Hacke, schrie Paul innerlich auf. Die Angelegenheit war zu komplex, als dass man sie in einem oder zwei Sätzen hätte erklären können. Solche Leute wie Sebastian wollten es aber in einem oder zwei Sätzen erklärt bekommen. Aber das war doch unmöglich, völlig unmöglich, dass sie das nicht verstanden! Alles hing irgendwie miteinander zusammen. Wenn man bei den Medien beginnen würde, müsste man zu deren Eigentümern übergehen und dann zu den Beziehungen zwischen Chefredakteuren und Politik. Diese warb doch schon seit Jahren Top-Manager ab, eben wegen der guten Kontakte in die jeweiligen Redaktionen. Hinzu kamen die Leute vom Geheimdienst. Sie waren doch in jede große Zeitung infiltriert. Operation Mockingbird, die Rosenholz-Dateien – Beispiele gab es en masse, man musste sich nur informieren und lesen. Aber dazu waren Leute wie Sebastian zu faul. Sie schrien lieber ‚Verschwörungstheorie‘ und ließen sich von den Medien alles vorkauen. Was diese sagten, war Gesetz. Erst wenn sie von einer Verschwörung sprachen, glaubte es auch der Typ eines Sebastians. Paul biss die Zähne zusammen und schloss in der Hoffnung auf eine Eingebung kurzzeitig die Augen.

„Ach komm jetzt“, sagte Sebastian. „Das hört sich ja wirklich wie Verschwörungskauderwelsch an. Ich bereue es, dein Video angeschaut zu haben. Wenn ich gewusst hätte …“ Paul unterbrach ihn sofort. „Sebastian, die Zusammenhänge sind komplex. Die kann man nicht zwischen Tür und Angel erklären, auch nicht, welche Rolle Medien heutzutage spielen. Große Konzerne, auch aus der Pharmaindustrie, beeinflussen die Berichterstattung mit Zuwendungen oder üppigen Ausgaben für Werbeanzeigen. Die Chefredakteure sitzen zudem zusammen mit Politikern in Thinktanks oder verkehren in Golfclubs. Da entsteht eine klebrige Nähe, verstehest du?“

„Jetzt drehst du ja völlig durch, Paule. Schluss jetzt, ich will nichts mehr hören, nichts von diesem Wodarg und auch nichts mehr von der angeblichen Gleichschaltung der Medien. Ich habe genug von diesen Verschwörungstheorien.“ Paul legte seine Hand auf Sebastians Schulter, um ihn zu beruhigen. Doch der riss sich los. „Ich meine es ernst, Paule. Keine Videos mehr. Schick mir nichts mehr, was mit Corona zu tun hat. Am besten sprechen wir überhaupt nicht mehr

über dieses Thema.“

Titelbild: Pixabay/ Markus Winkler

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