Kurzgeschichte
Irmgard führte mit der Hand durch ihr graues Haar, stand vom Sofa auf und schüttelte mehrmals den unteren Teil ihres Rocks. Schon seit Tagen kam es ihr vor, als wäre er ständig verstaubt. Die ganze Wohnung schien voller Staub. Sie sah ihn überall, selbst in der Luft. Oder glaubte sie nur, ihn zu sehen? Irmgard war sich nicht sicher. Die Langeweile verwirrte sie mit jedem Tag, der in diesem abgeriegelten Raum verging. Alles, was sie sah, war der Amberbaum im Garten. Aber von Abriegelung dürfe sie nicht sprechen, sagte die Heimleitug. Von Quarantäne auch nicht, sondern erst dann, wenn sie positiv getestet werden würde. Oder negativ? Irmgard schlug mit der flachen Hand gegen die Wand um sich zu erinnern. Das kannte sie von zu Hause damals, als ihr Vater gegen das Radio schlug, wenn der Empfang rauschte und stockte. Obwohl er schon vor vielen Jahren verstorben war, vermisste sie ihn noch immer. Noch mehr vermisste sie ihre Tochter Marlene, am meisten aber ihren Enkel Tobias. Sie vermisste sogar ihre Zimmernachbarin Helga, obwohl die wirklich ein zänkisches Weib sein konnte. Aber was würde Irmgard jetzt geben, um zumindest mit dieser Schnatterliese zu reden.
Irmgard überlegte, warum sie ihr Zimmer nicht verlassen durfte. Ach ja, richtig, Corona, irgendeine neue Krankheit. Sehr gefährlich, sagten die Betreuer im Altenheim. Deswegen mussten alle Abstand halten, besonders die Alten wie sie. Irmgard stutzte. Ab wann war man eigentlich alt? Ab einem bestimmten Alter oder ab einem bestimmten Gesundheitszustand? Wenn Letzterer das Kriterium war, zählte sie doch nicht dazu. Sie fühlte sich noch wie vierzig, na ja, oder wie fünfzig. Im Vergleich zu Helga oder den anderen Heimbewohnern war sie noch gesund, um nicht zu sagen kerngesund. Eigentlich hätte sie nie hierherziehen dürfen. Aber ihre Tochter wollte es nun mal so. Wo blieb Marlene eigentlich? Sie wollte doch schon um vierzehn Uhr mit Tobias zu Besuch kommen? Ein dröhnendes Klopfen an der Tür unterbrach sie. Irmgard stolperte fast, als sie sich umdrehte. Nach zwei langen Schritten drückte sie die Türklinke nach unten, ohne zu fragen, wer da war. Verschlossen! Ach ja, sie hatte es ganz vergessen. „Wer ist da“, rief sie. Als keine Antwort kam, fragte sie noch einmal, diesmal mit erhobener Stimme. „Bist du das, Marlene? Hallo, ist da jemand?“ Das Einzige, was sie hörte, war der leise pfeifende Durchzug im Gang und eine bedrohliche Stille. Irmgard blinzelte mit den Augen und starrte die vergilbte Tür an. Hatte sie etwa Halluzinationen! Sie hatte doch ein Klopfen gehört! Oder nicht? Um ihre Sinneswahrnehmung zu prüfen, konzentrierte sie sich auf ihre unmittelbare Umgebung. Sie wollte die kleinste Regung erfassen, den flüchtigsten Laut. Aber alles schien still zu stehen. Dieses Zimmer war wie ein Raum, in dem sich schleichend ein toxisches Vakuum ausbreitete.
Plötzlich hörte Irmgard das Telefon läuten. Regungslos überlegte sie mehrere Sekunden, ob es tatsächlich klingelte oder ob es schon wieder bloß eine Einbildung war. Als das Klingeln nicht aufhörte, nahm sie den Hörer ab. „Hallo“, sagte sie unsicher. „Hallo, Mama“, hörte sie schließlich.
„Marlene, bist du es?“
„Ja, ich bin’s! Du, Mama …“
„Marlene, bist du es wirklich? Ich meine, höre ich gerade deine Stimme? Bist du es, Marlene?“
„Ja, ich bin’s. Ist alles in Ordnung, Mama?“
„Marlene, du bist es, ja?“
„Ja, ja, ich bin es. Was ist denn mit dir los, Mama? Bist du krank? Werde ich deswegen nicht reingelassen?“
„Was, du wirst nicht reingelassen“, fragte Irmgard aufgeregt.
„Hast du Corona, Mama?“
„Was? Nein! Warum wirst du nicht reingelassen?“
„Keine Ahnung. Man sagte mir, dass Besuche ab heute untersagt seien.“
„Untersagt“, wiederholte Irmgard ungläubig. „So ein Quatsch. Für uns gilt bloß eine Abstandspflicht. Also eigentlich dürfen wir uns gar nicht sehen. Deswegen sind unsere Türen ja verschlossen.“ Irmgard machte eine kurze Pause. „Aber das alles hat doch nichts mit Familienbesuchen zu tun. Oder doch?“ Wieder hatte sie das Gefühl, dass jegliche Materie aus diesem Zimmer entwich. Sie hörte nur Stille. „Marlene? Hallo? Marlene?“
„Ja, ich bin noch dran. Ich weiß es nicht, Mama.“
„Marlene, du musst das in Erfahrung bringen, hörst du? Ich will euch unbedingt sehen. Sonst werde ich hier noch wahnsinnig, hörst du? Ich habe schon seit einer Woche mit niemandem gesprochen. Keiner redet mit uns. Hörst du mich, Marlene?“
„Ja, ich höre dich gut, Mama. Ich weiß doch aber auch nichts. Hier ändern sich die Regeln täglich. Ständig muss ich überlegen, was ich machen darf und was nicht.“
„Marlene, ich habe mich so auf unseren Freitag gefreut. Auf dich und auf Tobias. Ist er da?“
„Ja, er ist da, Mama! Aber wir dürfen das Heim nicht betreten!“
„Was heißt das, du weißt es nicht, Marlene? Du redest doch mit Leuten! Du hörst doch Nachrichten. Du bist es doch, die sich freibewegen kann. Ich bin eingesperrt.“
„Was, du bist eingesperrt?“
„Jaaaa, das habe ich dir doch gesagt. Marlene, ich bekomme nichts mit. Ich darf nicht in den Fernsehraum und habe keine Möglichkeit, die anderen Heimbewohner zu treffen.“
Irmgard zog den Telefonhörer vom Ohr weg. Sie glaubte, mehrere Stimmen gleichzeitig zu hören. Die stickige Luft färbte sich rötlich-braun und fing an nach verfaultem Rost zu schmecken. Irmgard versuchte, mit den Zähnen den Belag auf ihrer Zunge zu entfernen „Mama, Mama“, hörte sie dann die Stimme ihrer Tochter wieder. Irmgard drückte den Hörer dicht an ihr Ohr, um besser zu verstehen, was Marlene ihr sagen wollte. Aber sie verstand nur Wortfetzen, die sich anhörten wie die Vokabeln einer anderen Sprache.
„Marlene, ich verstehe nichts. Je länger ich mit dir rede, desto verwirrter fühle ich mich.“
„Dafür kann ich doch nichts, Mama.“
„Marlene“, bitte hör auf zu reden. Ich ertrage das nicht mehr. Ruf die Heimleitung an und frag, was los ist.“
„Das habe ich doch schon getan, Mutter. Man hat mir gesagt, was ich dir auch schon gesagt habe. Wir dürfen das Heim nicht betreten. Besuche sind derzeit nicht erlaubt. Wähl doch die Servicenummer! Vielleicht erfährst du mehr.“
„Was, ich? Wie soll ich das denn machen? Ich kenne die Nummer nicht!“
„Du musst den Hörer abheben und dann den roten Knopf drücken. Dann meldet sich jemand aus dem Heim. Probier das mal. Ich rufe dich in zehn Minuten wieder an.“
„Marlene, ihr geht aber nicht weg. Marlene, bitte geht nicht weg!“
„Nein, Mama, wir bleiben hier. Ruf jetzt die Servicestelle an!“
Irmgard hörte ein knarzendes Klickgeräusch, auf das ein schriller Laut folgte. Sie musste ihren Kopf umdrehen vor Schmerzen. Es bedurfte vier Versuche, bis der Hörer akkurat auf der Gabel lag und die Tortur beendete. Irmgard ließ sich erschöpft ins Sofa fallen und schnappte gierig nach Luft. Was sollte sie jetzt machen? Sie versuchte, sich zu erinnern, trieb aber in Gedanken von einer Richtung in die andere, wie ein Boot auf hoher See, den wütenden Wellen ausgeliefert. Ihr Blick klebte an der blassen Blumentapete, bis Irmgard ruckartig den Kopf zur Seite drehte, als wollte sie ihn von dort abreißen. Als er sich dann innerhalb des Fensterrahmens wie eine Fliege hin und her bewegte und an den Grenzen abprallte, kam ihre Erinnerung zurück. Die Servicenummer, der rote Knopf. Sie hob den Hörer ab und drückte ihn. Nach dem dritten Klingeln meldete sich eine Frauenstimme. Sie musste noch Anfang Zwanzig sein, dachte Irmgard. Diese Mischung aus Unsicherheit und Überschwänglichkeit kannte sie noch aus ihrer eigenen Jugend. Irmgard ließ sie nicht einmal ihren Einleitungstext aussprechen. Floskeln konnte sie noch nie leiden. Heute hatte sie erst recht keine Geduld dafür.
„Hier ist Frau Birngarten von Zimmer 206. Ich will wissen, warum meine Tochter und mein Enkel mich nicht besuchen dürfen.“
„Also, äh, wie, sagten sie, ist ihr Name. Frau Birnbach?“
„Birngarten!“
„Also, äh, Frau Birngarten, äh, also ich, ich vermute wegen Corona?“
„Ja? Was ist mit Corona?“
„Die Regierung hat ein Abstandsgebot verordnet, Frau Birnbaum.“
„Birngarten. Ich heiße Birngarten. „Abstandsgebot, und wenn schon. Wir halten doch schon seit Tagen Abstand. Aber jetzt dürfen wir nicht einmal Besuch bekommen – ist es so?“
Irmgard musste sich anstrengen, nicht den Hörer fallen zu lassen. Sie spürte, wie sich ihre Stimme überschlug. „So ein Kokolores! Ich bin 72 Jahre alt. Ich hatte so viele und lange Grippeperioden erlebt, so lange sind Sie nicht einmal am Leben, junge Dame. So ein Theater wegen einer Grippe.“
„Beruhigen Sie sich bitte, Frau Birngarten. Dieses Mal ist es keine Grippe, sondern eine viel, viel gefährlichere Krankheit. Sie heißt Covid.“
„Co … was“, schrie Irmgard.
„Covid. C.O.V.I.D.” Die Servicemitarbeiterin machte nach jedem Buchstaben eine längere Pause, als wäre Irmgard schwerhörig.
„Meinetwegen“, fiel sie ihr wieder ins Wort. „Und von mir aus auch mit Abstand. Aber wieso darf meine Familie mich nicht besuchen? Wir können doch Abstand halten. Hier im Zimmer, meine ich“, ergänzte sie sofort.
„Äh, ja, äh, das kann ich Ihnen gar nicht sagen.“
„Was heißt das, Sie können mir das nicht sagen?“
„Äh, also, äh, mir hat auch keiner etwas gesagt. Ich rufe kurz die Geschäftsleitung an und kläre das. Warten Sie bitte einen Augenblick, Frau Birnbach.“
„Birngarten, verdammt noch mal. Ich heiße Birngarten.“
„Ich rufe Sie in wenigen Minuten zurück, Frau Birngarten. Entschuldigen Sie bitte!“
Wieder hörte Irmgard das knarzende Klickgeräusch und den stechenden Ton danach. Die Blumentapete kam ihr greller vor als sonst. Die Engelstrompeten schienen sich reliefartig abzuheben. Ihr war, als spielten sie eine Melodie wie richtige Trompeten. Irmgard lehnte ihr linkes Ohr an die Wand, um sich zu vergewissern, dass sie die Melodie wirklich hörte. Ja, sie hörte etwas, aber nicht die Engelstrompete, sondern das Telefon. Das Klingeln wurde lauter und lauter. „Haben Sie etwas herausgefunden“, schrie Irmgard erwartungsvoll.
„Mama, ich bin’s, Marlene.“
„Marlene, hast du etwas herausgefunden? Dürft ihr mich nun besuchen?“
„Woher soll ich das wissen? Du solltest dich doch erkundigen. Hast du das gemacht? Hast du die Servicenummer gewählt?“
„Ja, habe ich. Aber so ein junges Ding sagte nur, dass sie es selbst nicht wüsste.“
„Sie weiß es auch nicht? Weiß überhaupt jemand etwas?“
„Das frage ich mich auch, Marlene. Niemand weiß etwas. Und ich am allerwenigsten.“
„Und jetzt?“
„Jetzt warte ich auf den Rückruf dieses Mädels. Sie wollte die Geschäftsleitung anrufen und es klären. Sie könnte jeden Moment zurückrufen, Marlene. Also leg schnell auf.“
Nun explodierte das knarzende Klickgeräusch, so stark, dass Irmgard glaubte, taub geworden zu sein. Sie klatschte in die Hände, um zu prüfen, ob sie noch etwas hörte. Sie vernahm ein dumpfes Klopfen, war aber nicht sicher, ob es von außen auf sie eindrosch oder durch das innere Pochen im Kopf hervorgerufen wurde. Doch dann erkannte sie den bekannten Klingellaut des Telefons. Dieses Mal hob sie ab, ohne etwas zu sagen. „Frau Birnbaum“, hörte sie die Stimme der Servicemitarbeiterin und schwieg weiter. „Frau Birnbaum? Hallo?“ Irmgard sagte nur „ja“. Sie hatte keine Kraft mehr, ihren Nachnamen zu verbessern.
„Frau Birnbach, ich habe gerade mit der Geschäftsleitung telefoniert und kann Ihnen nun sagen, warum Sie keinen Besuch haben dürfen. Also im Prinzip dürfen Sie besucht werden, aber nur von einer Person. Derzeit gilt die Regel, dass sich nicht mehr als zwei Personen treffen dürfen. Und Sie sollten Besuch bekommen von drei Personen, nicht wahr? Von ihrer Tochter und ihrem Enkel. Das ist doch richtig, oder?“
„Richtig.“
„Sehen Sie! Damit wären sie zu dritt. Das ist momentan nicht erlaubt, tut mir leid.“
„Oh Gott, welch ein Unsinn!“
„Ich habe mir die Regeln nicht ausgedacht, Frau Birnbach.“
„Birngarten. Ich heiße Birngarten.“
„Tut mir leid, Frau Birngarten! Also für beides, für den Versprecher und für …“
Irmgard ließ sie wieder nicht aussprechen. „Dürfen meine Tochter und mein Enkel wenigstens an mein Fenster kommen, damit ich sie sehen kann? Durch das Glas, meine ich.“
„Äh, mmh, äh, also das weiß ich nicht, Frau Birngarten. Da muss ich zunächst mit der Geschäftsleitung sprechen. Einen Augenblick bitte. Ich rufe Sie gleich zurück.“
Als das knarzende Klickgeräusch Irmgards Ohr durchbohrte, warf sie den Hörer panikartig gegen die Wand. Doch schon im nächsten Moment bereute sie es. Wenn der auseinandergebrochen war, konnte sie nicht mehr mit Marlene telefonieren. Ihr hämmernder Puls zwang sie, die Augen aufzureißen, um zu erkennen, wo der Hörer lag. Sie ging zaghaft auf die Knie und tastete den Boden ab, bis sie ihn fand. Glücksgefühle belebten ihre Sinne, als sie merkte, dass der der Hörer noch ganz war. Sie legte ihn schnell auf die Gabel und ließ ihn nicht aus den Augen. Sie würde Marlene und Tobias heute sehen, und wenn sie dafür die Fensterscheibe einschlagen müsste. Unter diesen Umständen konnte doch keiner leben. Da waren die Tiere im Zoo besser dran. Diese inkompetente Regierung, mit ihren Regeln und Verordnungen. Welch eine Hysterie. Warum durfte sie nicht selbst bestimmen, ob sie sich zur Risikogruppen zählen wollte! Was sollte das Viruschen ihr schon antun. Sie hatte schon ganze andere Zeiten erlebt.
Als das Telefon endlich klingelte, erschrak sie und war zunächst wie gelähmt. Erst nach dem ungefähr zehnten Klingeln gelang es ihr abzuheben.
„Mama“, meldete sich Marlene mit schneidender Stimme. „Bist du irgendwie weitergekommen? Wir habe keine Lust mehr zu warten. Tobias will nach Hause.“
„Ja, ja, Marlene, ich habe alles geklärt“, log Irmgard. „Besuch ist zwar nicht erlaubt, aber ihr dürft zu mir ans Fenster kommen.“
„Ans Fenster? Und dann?“
„Dann kann ich euch wenigstens sehen. Und reden können wir über das Telefon.“
Irmgard hörte, wie Marlene entnervt ausatmete, indem sie die Luft langsam herauspresste. Dann vernahm sie auch die Stimme von Tobias, ohne zu verstehen, was er genau sagte. Er diskutierte mit Marlene und schien zu quengeln.
„Mama, Tobias möchte nach Hause. Wir besuchen dich nächste Woche, gerne auch am Fenster. Das nächste Mal sind wir darauf vorbereitet.“
„Nein, bitte, Marlene“, schrie Irmgard auf, als müsste sie Abschied für immer nehmen. „Nur fünf Minuten. Bitte geht nicht weg. Ich will euch unbedingt sehen, auch wenn es nur ein paar Minuten sind. Marlene, tu mir das nicht an. Ich habe hier keinen zum Reden. Die Einsamkeit macht mich ganz kirre. Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht. Marlene, bitte! Ich weiß nicht, ob ich es bis nächste Woche aushalten kann.“
Irmgard brach ihr flehendes Bitten ab, weil sie hörte, wie sich Marlene im Hintergrund mit Tobias unterhielt. Hoffnung stieg in ihr auf. Der Gefühlswechsel ließ ihre Kopfhaut gefrieren. Sie fühlte sich wie benebelt.
„Ist in Ordnung, Mama! Wir kommen kurz ans Fenster.“
„Wunderbar!“. Der Freudenschrei wirkte berauschend. Irmgard ließ vor Glück fast den Telefonhörer fallen. „Aber bleib am Telefon, damit wir uns unterhalten können, hörst du?“
„Ja, ja, ich bleibe dran, Mama. Wir laufen jetzt zu deinem Fenster. Eine Sekunde.“
Irmgard schaute freudig durch das Fenster und sah, wie der Amberbaum draußen seine Konturen verlor und zu einem Farbkneul verklumpte.
„So, wir sind da, Mama. Siehst du uns?“
„Nein, Marlene, ich sehe euch nicht. Wo seid ihr denn?“
„Wir stehen dir genau gegenüber, Mama. Tobias winkt dir gerade.“
„Er winkt mir? Ich sehe euch nicht. Seid ihr auch am richtigen Fenster?“
Irmgard war, als würde sie in ein Kaleidoskop schauen. Das Farbspiel brachte sie völlig durcheinander. Ihre Füße taumelten, als stünde sie auf weichem, morastigem Boden.
„Natürlich sind wir am richtigen Fenster. Wir sehen dich doch.“
Irmgard fühlte sich zu schwach, um zu reden. „Ich sehe euch nicht“, war das Einzige, was sie herausbrachte.
„Mama“, ich verstehe dich kaum. Du redest so leise. Tobias ist jetzt entnervt weggelaufen. Ich muss hinterher, bevor er in seinem Anfall irgendwo verschwindet. Wir kommen nächste Woche, Mama. Versprochen. Ich muss jetzt los. Tschüss, Mama!“
Irmgard versuchte, mit aller Kraft nicht das Gleichgewicht zu verlieren. „Ich kann euch nicht sehen. Ich kann euch nicht sehen, wiederholte sie mehrmals, als wäre Marlene noch immer am Telefon. „Ich kann euch nicht sehen.“
Titelbild: Pixabay/Alexa