Zwangsmaßnahmen, autoritäre Tendenzen in der Politik, gesellschaftliche Spaltung und nun auch Krieg: Die gegenwärtigen Verhältnisse sind geradezu katastrophal. Wir leben in einer Welt, in der es immer unangenehmer wird. Nicht wenige nehmen die Situation zum Anlass, wieder stärker über Utopien nachzudenken, über Gegenentwürfe einer möglichen, aber besseren Lebensform. Einen solchen präsentiert der Pop-Musiker Enter Tainy in seinem neuen Song. Darin erzählt er «Die Geschichte der Utopie», wie der Titel zu verstehen gibt, greift dabei aber zu Fragen, die in der Möglichkeitsform formuliert sind: „Was wäre die Welt ohne Politik?“, beginnt die erste Strophe. „Und ohne die ganze Heuchelei? / Wenn alles einfach nur Liebe wär / Und die Lüge wäre ne Story mit wenigen Likes / Stell dir vor, es gäbe keine Unterschiede / stell dir vor es gäbe keine Unterschiede / Stell dir vor wir wären alle eins.“
Angesichts der gesellschaftlichen Unzufriedenheit, die sich unter anderem auf zahlreichen Demonstrationen kundtut, wirkt der Song sehr aktuell. Er entstand aber schon Anfang 2020, als die Corona-Maßnahmen die Welt ins Wanken brachten. Damals beschäftigte sich der Sänger aus Kassel noch mit dem Krieg im Jemen, der bis heute viel Leid erzeugt, aber in der medialen Berichterstattung kaum Erwähnung findet. Enter Tainy gingen die Auswüchse der bewaffneten Auseinandersetzung genauso nahe wie heute der Ukraine-Konflikt, doch dann kamen die gesellschaftlichen Verwerfungen im Zuge der Corona-Krise, weshalb er immer wieder einen neuen Song vorschob, der sich direkt mit der weltweiten Gesundheitspolitik auseinandersetzte. Nun hat der Pop-Sänger seine «Geschichte der Utopie» endlich vertont und zu einem Zeitpunkt veröffentlicht, wo mit dem neuen Krieg eine weitere humanitäre Katastrophe droht.
Angst vor Unterdrückung der Freiheit
Der Song spiegelt in gewisser Weise seinen derzeitigen Seelenzustand wider, der zwischen Niedergeschlagenheit und Hoffnung schwankt. Es werde immer deutlicher, dass es auf politisch-gesellschaftlicher Ebene nur noch um Kontrolle und Macht gehe, sagt Enter Tainy. Die größte Gefahr sieht er in der Unterdrückung der Freiheit. „Die Technokraten an den Schalthebeln geben vor, was wir denken sollen“, so der Musiker. „Es wird mit Angst operiert und alle Werte so umgekehrt, dass das, was früher schlecht war, nun als positiv dargestellt wird – und umgekehrt.“ Das hemme jegliche Entwicklung, eben weil die Gedanken nicht mehr frei seien.
Der 39-Jährige weiß, wovon er spricht. Im Zuge der Corona-Politik hat er nicht nur eine ausufernde mediale Zensur bemerkt, sondern auch selber erlebt – innerhalb seiner früheren Band. Über zehn Jahre waren die Mitglieder eng verbunden und traten in regelmäßigen Abständen gemeinsam auf. Als Enter Tainy zu Beginn der Corona-Politik sich dann aber als Maßnahmen-Kritiker positionierte, brach der Kontakt plötzlich ab. Seine Bandkollegen lösten sich von ihm still und heimlich, ohne auf Gesprächsangebote einzugehen. Seit anderthalb Jahren hat er nun nichts mehr von ihnen gehört. Während sie sich einem anderen Projekt zugewandt haben, arbeitet Enter Tainy an seiner Karriere als Solo-Künstler.
Ambitionen als Solo-Künstler
Derzeit produziert er einen Track nach dem anderen und tritt auf stillen Protesten auf. Sollten sich die Bedingungen wieder normalisieren, will der Sänger auch Konzerte geben. Insofern gibt es hin und wieder Momente, in denen er voller Hoffnung ist und es ihm leichter fällt, von einer besseren Welt zu träumen: „Was wäre die Welt ohne Militär?“, heißt es in seinem neuen Song. „Und ohne die Hinterzimmer-Deals? / Wenn jeder einfach nur mal ehrlich wär / Dann wäre die Welt ein Paradies / Stell dir vor, wir wären freundlich zueinander / Stell dir vor, wir wären alle eins.“ Während der Song auf der Text-Ebene die Hörer mit rhetorischen Fragen konfrontiert, versprüht er musikalisch einen 80er-Sound, der an die britische Band The Cure angelehnt ist. Er erinnert an die Neue Deutsche Welle und animiert zum Tanzen.
«Die Geschichte der Utopie» kommt stimmungsvoll daher und erzeugt eine ausgelassene Atmosphäre, wie man sie leicht an einem solchen «Nicht-Ort» vorstellen kann. Dass eine solche Lebensform, wie Enter Tainy sie im Song beschreibt, von der Realität weit entfernt bleibt, ist dem Musiker völlig klar. Im Refrain bringt er das deutlich zur Sprache, indem er von der Beschreibung des Weltentwurfs zur Selbstreflexion übergeht: „Aber das ist die Geschichte der Utopie / Und ich weiß nicht, wie lange ich sie noch erzählen kann / Ich hoffe, ich kann lange / Und ich wünsche es mir so sehr / Denn irgendwie plötzlich / Bleibt die nächste Seite leer.“ Er bilde sich manchmal ein, dass es möglich sei, in einer Utopie zu leben, sagt der Pop-Musiker. Und so lange er das tut, werde er weiter davon singen.