Im Laufe der Corona-Krise haben sich weniger die ganz großen Stars mit kritischen Werken zu Wort gemeldet, sondern eher Künstler, die nicht täglich im Rampenlicht stehen. Deren Output ist beachtlich und wächst kontinuierlich weiter. Mittlerweile kann man vor allem in der Musik sogar von einer parallelen Kulturindustrie sprechen, innerhalb derer Newcomer sowie zuvor nur in der alternativen Szene bekannte Singer-Songwriter Tausende Menschen erreichen. Bekannt sind so Namen wie SchwrzVyce, Jens Fischer Rodrian, Alex Olivari oder Alien’s Best Friends. Doch es gibt auch Musiker, die bislang unter dem Radar blieben, obwohl sie künstlerisch schon recht früh auf die Corona-Politik reagiert hatten. Einer von ihnen ist der Berliner Singer-Songwriter und Gitarrist El Alemán.
Als alle Kulturveranstaltungen abgesagt und untersagt wurden, begann er umgehend, an einem Album zu arbeiten, das wenige Monate später und pünktlich zum zweiten Lockdown unter dem Titel «Status 2020. Lieder zur Zeit» herauskam. Wer sich das fertige Produkt anhört, merkt augenblicklich, wie die gesellschaftspolitischen Veränderungen den Schaffensprozess beeinflusst haben. Die Songs setzen sich mit Themen wie Geschichtsvergessenheit und Freiheitsverlust auseinander, mit dem Duckmäusertum großer Musiker, dem grassierenden Denunziantentum und der Spaltung der Gesellschaft. Diese Themen verarbeitet El Alemán jedoch weder in einem aggressiven noch in einem larmoyanten Ton, sondern gewitzt-lässig mit einem Hauch politischunkorrektem Sarkasmus, der dem ganzen Album seine Würze verleiht. Bezeichnend dafür ist der Song «Politesse», in dem es um das Phänomen geht, dass kleine Leute, die Macht haben, sie genießen und auch gerne ausüben.
Unausgesprochener Bezug auf die Corona-Zeit
In der musikalisch vorgetragenen Geschichte wird das Erzähler-Ich nachts und bei Regen von einer Polizistin wegen einer Kleinigkeit festgehalten und versucht ihr zu erklären, dass die Aktion es nicht wert ist, kostbare Lebenszeit zu verschwenden: „Ach Mädchen, könnt ich dich dazu bewegen / nach Haus’ zu gehen, komm, lass es sein / Doch du wehrst dich gegen meine Hände / Und sagst, du machst doch hier nur deinen Job / Dein leerer Blick spricht Tausend Bände / Und schließlich meinst du noch, ich wär’ bekloppt“, beschreibt El Alemán die Situation, bevor er mit einem bissigen Refrain überrascht: „Nun zieh nicht so ne Fresse / Süße kleine Politesse / Und mach uns beiden bloß nicht so nen Stress / Du süße kleine Politess.“ Obwohl der Song die Durchsetzung der harten Corona-Maßnahmen nicht mit einem Wort erwähnt, bezieht er sich inhaltlich direkt auf die erste Zeit der Lockdown- und Social-Distancing-Politik, als Polizeibeamte auf der Straße unbescholtene Bürger wegen Nichtigkeiten wie einem Treffen zu dritt oder fehlender Maske in den öffentlichen Verkehrsmitteln drangsalierten.
Die latenten Bezüge auf die gesellschaftlichen Umbrüche im Zuge der Corona-Krise finden sich in einigen Lider auf dem Album, wobei der Singer-Songwriter und Gitarrist zu verstehen gibt, dass der totalitäre Geist wiederbelebt zu sein scheint. Im «Blues vom Vergessen» wird beispielsweise die entstehende Schweigespirale beklagt, die entsteht, wenn eine Gesellschaft keine Abweichung von der herrschenden Meinung toleriert. Weil sie die „Gläubigen“, wie es im Song heißt, verärgert, ziehen sich Kritiker der Regierungslinie zurück. „So teilte sich langsam das Volk in dem Land“, heißt eine Strophe. „Denn viele benutzten ihren eigenen Verstand / Doch die gläubigen Diener, eine riesige Macht / Blind haben sie alles für ihre Führer gemacht / Denunzierten selbst Nachbarn im eigenen Haus / Und plauderten alles bei Behörden gern aus / Ja, ein riesiges Netzwerk treuer Bürger entstand / Überwacht wurde so, dieses traurige Land.“
Biografischer Werdegang
Vorgetragen wird der Song, so viel wird vor dem biografischen Hintergrund klar, aus der Sicht des Künstlers. El Alemán singt in der Er-Perspektive davon, dass jener erneut miterlebt, „wie alles vergeht / Seine Hoffnung, seine Träume wie vom Winde verweht / Nach zwei Diktaturen ist er müde und schwach / Trotzdem im Kopf immer noch hellwach.“ Der Musiker zieht hier unter anderem eine Parallele zur DDR, in der er 1959 geboren wurde. Dort absolvierte er schon in frühen Jahren eine Ausbildung auf der klassischen Gitarre und begleitete mehre Bands, bis er selber eine gründete. In den 80er Jahren spielte er in mehreren Rock- und Popgruppen, fungierte gelegentlich aber auch noch zusätzlich als Sänger. 1999 bekam El Alemán schließlich ein Angebot, bei einem Berliner Romamusik-Ensemble einzusteigen. Dieses Engagement brachte es mit sich, dass er die spanische Gitarre schätzen lernte und auf sie künftig seinen Schwerpunkt legte. Aus dieser neuen Leidenschaft resultierte schließlich sein Künstlername.
2001 begleitete El Alemán den in Europa wohl bekanntesten Interpreten jüdischer Lieder, Karsten Troyke, bei seinen Tourneen. Seitdem arbeiten beide eng zusammen. Es war auch Troyke, der dieses Album gemastert und produziert hat. Seit 2002 fungiert er zudem als Gitarrist von Bettina Wegner, der wohl bekanntesten deutschen Liedermacherin. Eine besonders prägende Station auf seinem Werdegang erwies sich die Arbeit am vorpommerschen Theater Anklam in Norden der DDR, wohin damals viele kritische Künstler strafversetzt wurden. So kam El Alemán schon sehr früh mit vielen guten und bekannten Schauspielern und Regisseuren in Kontakt.
Vergleiche mit der DDR
Aufgrund dieser Erfahrungen erkennt der Singer-Songwriter gewisse totalitäre Muster, die sich seit der Corona-Politik zu wiederholen scheinen. Um sie geht es unter anderem in dem Song «Götterspiele», in dem El Alemán beklagt, dass die Gräuel der Vergangenheit vergessen zu sein scheinen. „Im Gedächtnis nur Bilder“, begründet er die heutige Erinnerungskultur singend, „einer schönen Kindheit / Drum wird sich alles wiederholen / Die Figuren stehen schon bereit.“ Ähnliche Vergleiche mit der DDR finden sich in dem Stück «Verbotene Lieder», wobei bereits der Titel auf die Zensur kritischer Künstler anspielt, die seit der Corona-Politik erneut Konjunktur hat. Allerdings haben es „verbotene Lieder“ an sich, erinnert der Singer-Songwriter, sich schnell zu verbreiten – eben weil sie verboten sind: „Heimlich hat man die Lieder gehört und kopiert / Die Genossen da oben hatten gar nix kapiert / Sie spielten nur Künstler aus ihrem Verlag / Und die Sender bekamen diesen Bildungsauftrag.“
Während man die Rebellen verbannt, werden angepasste Stars hofiert. Das betont El Alemán mit einem Kommentar auf die Gegenwart in dem Song «Zahnlose Tiger». Als solche erweisen sich vor allem Rock-Musiker, wie es dort heißt. Damals hätten sie über Freiheit und Frieden gesungen, heute „kümmerst sie das einen Dreck“. Sie sitzen lieber in Luxusapartments und verprassen zufrieden ihr Geld. „Dabei wären sie jetzt grad so wichtig“, singt El Alemán weiter. „Damals gaben sie Hoffnung und Mut / Gezähmt sind sie ganz offensichtlich / im Schosse der Macht lebt sich’s gut / Finanziell hat man gar keine Sorgen / Doch viel Geld macht kritiklos und dumm / Längst begann hier im Land schon das Morden / Doch die Rebellen von damals sind stumm.“
Das Album enthält jedoch nicht nur politische Songs zum Zeitgeschehen, sondern es finden sich auch solche, die die Sorgen kleiner Leute thematisieren oder gewöhnliche Beziehungsprobleme. Andere handeln von unerfüllten Träumen oder versprühen Hoffnung. Musikalisch trägt sie El Alemán bisweilen mit maurischen Anklängen vor, mal nostalgisch, mal melancholisch. «Status 2020. Lieder zur Zeit» lässt sich als ein gelungenes und originelles Album bewerten, in dem die Stimmung der ersten Lockdown-Phase authentisch aus der Perspektive eines Künstlers wiedergegeben wird. Er habe in dieser Zeit plötzlich sehr viel Zeit zum Nachdenken gehabt, erinnert sich El Alemán, und konnte das, was im Land gerade passierte, adäquat verarbeiten. Im Dezember soll schon sein nächstes Album erscheinen. Die gesellschaftspolitischen Veränderungen werden auch dieses Mal eine große Rolle spielen.