Transhumanismus in der Musik – Wie die Technik die Hörgewohnheiten verändert

Heutzutage kann jeder halbprofessionelle Musiker ein passables Stück zu Hause auf dem Computer aufnehmen. Die Technik ist mittlerweile so ausgereift, dass der Gang ins Studio überflüssig wird. Mit hochentwickelten Programmen lassen sich mehrere Instrumente in Einklang bringen. Apps retuschieren die stimmlichen Unebenheiten und sorgen dafür, dass die Töne wieder richtig klingen. Solche Eingriffe dauern nur wenige Minuten, und schon ist der Sound oder Song fertig. Wer Musik auf diese Weise am Computer produziert, spart im Vergleich zur herkömmlichen Herangehensweise nicht nur Zeit, sondern auch Geld. Die Mehrkosten dürften sich mindestens auf das Zehnfache belaufen, schätzt Augustin.

Der bayerische Songwriter und Produzent gehört zu der Riege der alten Schule und nimmt seine Stücke weiterhin mit Musikern im Studio auf. „Dafür brauche ich oftmals mehrere Instrumentalisten. Und die verlangen und verdienen auch eine Gage.“ Ein Aufnahmetag kann ihn schon einmal 2.000 Euro und mehr kosten. Um sie wieder zu erwirtschaften, muss das Produkt eine gewisse Hörerschaft erreichen und einen kommerziellen Erfolg zeitigen. Die Musik wird zum Risikogeschäft. Von diesen Sorgen wissen die heutigen Produzenten zu Hause am Computer recht wenig. Ihre Investitionen laufen gegen Null, sofern die notwendigen Programme vorhanden sind. So zeit- und geldsparend sich die moderne Art und Weise der Soundherstellung darstellt, sie hat einen großen Nachteil: Die Musik verliert ihre Natürlichkeit, ja ihre menschliche Komponente. Und ihre besondere Magie.

Ein hochqualitatives Stück wirkt auf uns deswegen so ansprechend und harmonisch, weil es von der mathematischen Exaktheit abweicht. Der Journalist und Produzent Joachim E. Behrend hat diesen Effekt einmal so beschrieben: Die Magie der Musik liegt im menschlichen Fehler. Doch der wird mit modernen technischen Mitteln immer präziser korrigiert. Das Ergebnis ist ein elektronischer, algorithmusgestützter Sound. Augustin bezeichnet ihn als „Maschinenmusik“. Sie bilde zu fast 90 Prozent den Inhalt von Mainstream-Radio oder Portalen wie Spotify oder YouTube. Das hat allerdings auch damit zu tun, dass der Ton den natürlichen Wert von 432 Hz überschreitet. Die Technik macht es möglich, wobei die Norm schon vorher angehoben wurde. Harmonisch wirkt Musik jedoch nur, wenn sie auf 432 Hz gestimmt ist. Man spricht in diesem Zusammenhang vom sogenannten Kammerton. Der Bezug erfolgt hier auf die fürstlichen Gemächer, in denen früher musiziert wurde.

Das hat zu dem vorher Genannten auch damit zu tun, dass der Kammerton A (1939 von der International Federation of the National Standardizing Associations in London)  auf 440 Hz festgelegt wurde, worauf sich dann Musiker bei der Stimmung ihrer Instrumente beziehen. Der dem Menschen natürlicher entsprechende Kammerton A war und ist eigentlich 432 Hz. Alle elektronischen Instrumente werden heutzutage mit der Preset-Stimmung 440 Hz ausgeliefert. Der Stimmung nach wirkt 432 Hz nicht nur sehr harmonisch auf den Körper, er unterstützt auch die Synchronisation der Gehirnhälften und fördert den gesunden Zellstoffwechsel.

Das Gehör passt sich an

Wer jedoch das Radio einschaltet oder sich auf YouTube beschallen lässt, hört meist eine Musik, deren Frequenz das natürliche Maß überschreitet und den menschlichen Organismus negativ beeinflusst. Sie sorgt für Stress und Anspannung, sowohl in jeder Zelle unseres Körpers als auch im Zellwasser und -zwischengewebe. Wir fühlen uns daraufhin unausgeglichen, verspüren Hektik und verbrauchen viel Energie, um die Töne ständig zurechtzuhören. Die „Maschinenmusik“, wie Augustin sie nennt, befeuert diesen Effekt, bewirkt aber auch einen Anpassungsprozess. „Das Gehör gewöhnt sich an diesen Sound und nimmt ihn schließlich als natürlich wahr“, erklärt der 61-jährige Bayer.

Musiker Augustin

Der Produzent sieht darin eine fatale Entwicklung: „Wir verlieren das Feingefühl in Sachen Rhythmus, Timing und Tuning und werden so zu Maschinenmenschen gemacht“, sagt er und verweist auf Charlie Chaplins Rede an die Menschheit am Ende von dessen Film «Der große Diktator», in der genau das zur Sprache kommt: „Wir sind keine Maschinen-Menschen“. Und doch geht die Entwicklung in diese Richtung. Sie lässt sich als Teil des Transhumanismus verstehen, der mittlerweile alle Lebensbereiche erfasst, selbst die Kunst. So sieht es auch Augustin: „Die heutige computergestützte Musik erzeugt eine Robotisierung der Menschheit.“

Der magische Moment

Der Trend sei verhängnisvoll, kritisiert der Produzent, indem er Chaplins Aussage variiert: „Wir sind keine Maschinen-Musiker.“ Für ihn bedarf es des menschlichen Faktors, damit Kunst überhaupt erst entsteht. Das merke er immer wieder bei Aufnahmen im Studio, wenn mehrere Musiker miteinander interagieren: „Das Momentum, wenn sie zusammen live spielen und ihre eigene Kreativität, ihre eigenen Fehler mitbringen, den magischen Moment, der dann bisweilen kreativ entstehen darf und kann – den kann man einfach nicht programmieren.“

Musik entfalte seiner Meinung nach nur dann ihre Kraft, wenn ihr Wesen, die situationelle Spontanität, nicht rationalisiert werde, wie er allegorisch an einem anderen Beispiel veranschaulicht: „Eine Schamanen-Trommel, die von einem Roboter gespielt wird, hat erwiesenermaßen keine Heilwirkung, keine Magie.“ So sehe er das auch in der Musik: „Die seelischen Werte kommen bei einem guten Sänger in den Abweichungen von der Norm zum Schwingen.“ Das heißt aber nicht, dass Augustin auf die technischen Mittel ganz verzichtet.  Er benutzt den Computer als „Recording-Maschine“ und in der Post-Production, unter anderem um „Pre-Produktion-Layouts oder Demos“ zu erstellen. Sonst würden die Kosten noch höher ausfallen und ihn wirtschaftlich ruinieren. „Nach diesen kurzen Eingriffen spielen wir aber die Musik und lassen nicht nur irgendwelche Algorithmen von der Maschine ablaufen“, betont der Bayer, wenn er die Arbeit im Studio beschreibt.

Wiedergeburt des Vinyls: Eine Gegenbewegung

Unter diesen Bedingungen komme dann auch der magische Moment. In den Produktionsstuben von heute scheint er jedoch zu einem immer flüchtigeren Phänomen zu verkommen. Wer mit der digitalisierten Musik aufgewachsen ist, wird ihn auch kaum vermissen. Vermutlich wird man nicht einmal wissen, dass es ihn je gegeben hat – jedenfalls in der Gestalt, wie ihn Augustin beschreibt. Der magische Moment sieht für die neue Generation anders aus. Ihre Hörgewohnheiten haben sich an die computergestützte Musik angepasst, weshalb gerade junge Menschen sie als natürlich empfinden und wahrscheinlich bevorzugen. Wie will Augustin solche Leute überzeugen, dass ihnen ein wesentlicher Teil entgeht? „Wie willst du einem Blinden sagen, dass er zwischen Rot und Rosa nicht unterscheiden kann“, antwortet er. „Da kannst du nicht argumentieren. Das geht nicht.“

Inzwischen hätten viele junge Menschen an den Musikschulen Schwierigkeiten, ein Ritardando musikalisch schön zu spielen, ohne dass es ihnen bewusst wäre, pointiert er das Problem. Für einen Puristen wie ihn stellt diese Entwicklung eine Katastrophe dar. Maschinenmusik sei daher „Teufelszeug“. Wenn Augustin es sich leisten könnte, würde er den kompletten Produktionsprozess auf der analogen Ebene belassen, bis hin zur Pressung der Vinyl-LP. „Leider ist so etwas momentan sehr teuer“, sagt er bedauernd angesichts des Verkümmerungsprozesses in der Musik. Glücklicherweise gebe es eine Gegenbewegung. Der bayrische Songwriter und Produzent verweist dabei auf die erneute Konjunktur des Vinyls. In kleinen Musikläden wächst diese Abteilung kontinuierlich. Der Markt explodiert förmlich, weil auch immer mehr DJs wieder richtige Platten auflegen. „Das ist analog und hat noch einmal eine andere Qualität“, kommentiert Augustin den gegenwärtigen Trend. „Die guten DJs wissen das.“ Für ihn bleibt die Hoffnung, dass sich dieses Know-How durchsetzt – damit die Maschinenmusik wieder verschwindet und keinen Schaden mehr anrichtet.

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