Helke Misselwitz gehört heute zu den ganz großen deutschen Filmschaffenden. Ihre Karriere begann in der DDR, wo sie sich zur Meisterschülerin von Regisseur Heiner Carow hocharbeitete. Ihr Dokumentarfilm «Winter adé» zählt noch immer zu den Klassikern der Wendezeit. 1988 lief er im Wettbewerb des Dokfilmfestivals in Leipzig, nachdem er von offizieller Seite zunächst abgelehnt worden war. Bei Jury und Publikum stieß der Streifen auf enorme Resonanz. Am Ende des Wettbewerbs nahm Misselwitz die Silberne Taube entgegen. Nun ist «Winter adé» zum 75. Geburtstag der Regisseurin erstmals in einer digital restaurierten Fassung erschienen – auf einer DVD, die als eine Werkausgabe mit weiteren Filmen der einstigen Meisterschülerin daherkommt.
Was Misselwitz’ Klassiker ausmacht, ist seine poetisch-meditative Erzählweise. Sie entfaltet sich während einer Reise durch die DDR im Jahr 1988, die die Filmemacherin an einer Eisenbahnschranke in Planitz bei Zwickau beginnt. Der Startort hat symbolischen Charakter. Hier wird Misselwitz 1947 im Krankenwagen unter der Mithilfe ihrer Großmutter geboren. Knapp zwei Jahre später entsteht die DDR. Auf ihrer Reise durch das Land will die Filmemacherin erfahren, wie andere Menschen bislang in dem sozialistischen Staat gelebt haben und wie sie in Zukunft leben möchten. Es sind vorwiegend Frauen, mit denen sie sich unterhält, ob zu Hause, auf Arbeit oder im Zug. Dort findet gleich das erste Interview statt. Die Gesprächspartnerin erzählt von ihren zwei Ehen, beschreibt die Schwierigkeiten und Glücksmomente, geht auf die eigenen Familienverhältnisse ein und berichtet von ihren beruflichen Erfahrungen als stellvertretende Direktorin der HO Werbung in Berlin, die sich in einer männerdominierten Arbeitswelt durchschlagen muss.
Poetisches Mosaik an Schicksalen
Im weiteren Verlauf der Reise trifft Misselwitz eine 37-jährige Fabrikarbeiterin, die bei der Brikettproduktion dafür sorgen muss, dass der Schlot frei bleibt, damit sich der Staub nicht festsetzt. Die Strapazen im Beruf gleichen denen im Privatleben, das – wie die Interviewte erzählt – schon in der Kindheit kein Freudentanz war. Die Frau hat Angst vor der Zukunft; sie hofft auf die Liebe ihrer Tochter und träumt davon, irgendwann ferne Länder bereisen zu können. Zwei Mädchen im Jugendalter erzählen hingen von ihrer Flucht aus dem Elternhaus. Angetrieben habe sie der Wunsch, frei zu sein und das zu machen, wonach ihnen gerade war. Eine von ihnen wird nach den Dreharbeiten in einen Jugendwerkhof für Schwererziehbare eingewiesen. Um einiges intakter sieht das Gefüge einer Kleinfamilie aus, die Misselwitz wieder im Zug interviewt. Was sie bedrückt, ist eher der zu niedrige Verdienst des Hausherrn und die steigenden Preise.
Durch solche Gespräche mit Personen aus unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen entsteht ein poetisches Mosaik an Schicksalen, das auf vielschichtige Weise offenbart, was die DDR-Bürger kurz vor der Wende bewegt. Misselwitz interagiert mit ihnen mal aus dem Off, mal vor der Kamera, die bisweilen gerne sehr nah an die Protagonisten heranrückt. Ab und an gleicht sich ihre Führung sogar dem Ambiente an, so wie in der ältesten DDR-Tanzschule, wo sie sich im Takt um die tanzenden Paare windet. In solchen Szenen kommt sie zwar in Bewegung, bleibt aber unaufgeregt. Der Film verzichtet auf schnelle Schnitte und lässt sich viel Zeit, besonders für Aufnahmen, die stimmungsvoll die innere Gefühlslage der Protagonisten nach außen tragen. Dazu trägt auch der ruhige Erzählton der Regisseurin bei, in dem sie die Geschichten ihrer Gesprächspartner mit Zusatzinformationen anreichert. Eingeblendete Fotografien vervollkommnen schließlich das Bild und verleihen dem Film eine emotionale Tiefe.
Entschleunigte Welt
Aus heutiger Perspektive mutet der DDR-Alltag, den die Regisseurin abbildet, wie eine Welt an, die sehr weit entfernt zu liegen scheint, obwohl gerade einmal knapp 35 Jahre vergangen sind. Sie wirkt entschleunigt und strahlt eine Aura aus, als gäbe es zu diesem Zeitpunkt außerhalb des Privaten keinerlei politische Probleme. Ist «Winter adé» ausschließlich in Schwarz-Weiß gedreht, befinden sich auf dem Bonusmaterial auch Filme in Farbe, darunter Misselwitz’ vorherige Kurzdokumentation «Aktfotografie – z.B. Gundula Schulze». Während hier eine junge Studentin im Vordergrund steht, die über die Schwierigkeiten erzählt, die ganze Persönlichkeit einer Frau ins rechte Licht zu setzen, beschäftigt sich die Regisseurin in «TangoTraum» aus dem Jahr 1985 mit dem Tanzgenre auf eine Art und Weise, die von Sehnsucht und analytischer Neugier getrieben ist.
«Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann» gehört hingen zu Misselwitz’ Filmen, die nach «Winter adé» erschienen sind. Er zeigt die verschiedenen Facetten des Kohlehandels und porträtiert Menschen, die eine harte und wenig renommierte Arbeit ausführen, aber das Herz am rechten Fleck haben. Zusätzlich zu diesen Filmen der Meisterregisseurin gibt als Extra drei Sujets aus der Reihe DEFA Kinobox. «35 Fotos», «Tango», «Marx-Familie» runden die digital restaurierte Werkausgabe ab und machen sie zu einem veritablen Homekino-Vergnügen.
Titelbild: Michael Löwenberg