Die Digitalisierung hat die Welt komplett verändert. Als der Eiserne Vorhang 1989 fiel, stak sie jedoch noch in den Kinderschuhen. Nicht wenige Geschichtsromantiker dürften sich daher fragen, wie sich die DDR im Zeitalter von Internet, Smartphone und YouTube behaupten würde. Eine satirische Antwort darauf gibt der Journalist Holger Kreymeier in seinem neuen Roman, der dieses Szenario durchspielt. Der Thriller mit dem bezeichnenden Titel «Hashtag #DDR» spielt mitten in der Corona-Krise und enthält viele Bezüge zu realen Ereignissen aus der Gegenwart. Der Widerstand gegen das Regime findet nicht mehr auf der Straße statt, sondern im Netz. Allerdings will auch die SED-Führung dieses Terrain für ihre Zwecke nutzen und entwickelt Pläne für eine moderne digitale Überwachung. Doch dafür braucht sie Geld – viel Geld, das sie nicht hat.
Auf dieser Prämisse basiert ein Geflecht von Handlungssträngen und Konflikten, von menschlichen Schicksalen und machtpolitischen Schachzügen. Um die Kontrolle im Internet auszuweiten und die Oppositionsgruppen zu zerschlagen, wendet sich die DDR-Führung an die Bundesrepublik. Die beiden deutschen Staaten handeln einen geheimen Impfstoff-Deal aus, der jeder Seite je eigene Vorteile bietet. Von dem Abkommen erfährt schließlich der äußerst prominente West-Deutsche Youtuber Lonzo. Der Protagonist steht mit vielen Akteuren in Verbindung, sowohl mit Widerstandskämpfern in der DDR als auch mit Stasi-Mitarbeitern und Journalisten in der BRD. Autor Kreymeier lehnt diese Figur an Rezo an, dessen Video «Die Zerstörung der CDU» vor wenigen Jahren bundesweit Aufmerksamkeit hervorrief. Gleiches gelingt Lonzo, nur dass er in seiner Produktion die DDR-Verhältnisse entlarvt.
Witzige Gegenwartsbezüge
Anfangs bekommt der Protagonist noch die Unterstützung der westdeutschen Presse, wird aber im Verlauf der Handlung immer mehr zu einem Sicherheitsrisiko. Es beginnt ein Politthriller, der durchaus eine Ahnung davon vermittelt, wie Geheimdienste in Wirklichkeit arbeiten und reichweitenstarke Influencer instrumentalisieren. Kreymeier gelingt es, Spannung aufzubauen, ohne dass es verkrampft oder überladen wirkt. Er stützt sich dabei auf eine filmische Erzählweise, bei der häufige Zeit- und Ortswechsel die kleinteilige Dramaturgie bestimmen. Zwischen den Szenen sind immer wieder kurze Meldungen oder Tweets zu lesen. Sie dienen als Kommentare auf die vorherigen Ereignisse und simulieren eine breite Öffentlichkeit, die das Geschehen um Lonzo schrittweise bekommt.
Während Kreymeier sein Handlungsnetz auswirft, verarbeitet er im gleichen Atemzug die Phänomene der Zeit, solche wie verbotene Demonstrationen, Ausschlüsse von Journalisten von der Bundespressekonferenz, die Unterdrückung des Rechts auf Meinungsfreiheit oder die Aktionen der «Letzten Generation». „Das ist moderner Widerstand“, heißt es zwischen einem DDR-Oppositionellen und einem Stasi-Mitarbeiter. „Also, auf die Straße zu gehen halten Sie für altbacken?“ „Was sollen wir denn tun? Uns auf der Straße festkleben?“ Der Roman überzeugt mit vielen solcher kleinen geistreichen wie witzigen Gegenwartsbezügen, die allerdings auch unterschiedliche Lesarten zulassen, wie die umstrittenen Themen gewertet werden. Darin besteht gerade der Kunstgriff Kreymeiers. Er legt seine eigene Haltung nicht offen, regt aber zum Nachdenken an und aktiviert die Leser, selber nach einer Antwort zu suchen.
Viel Interpretationsspielraum
Bei dem umstrittenen Impfstoff-Deal etwa hilft die DDR der Bundesrepublik mit dem Vakzin aus, um die eigene Kasse zu füllen. Das wiederum veranlasst die westdeutschen Twitter-Nutzer und Journalisten, im typischen Empörungsmodus die SED-Führung dafür zu kritisieren. Durch den Verkauf stünde den DDR-Bürgern nicht genug Impfstoff zur Verfügung. Im Roman erscheint dieser tatsächlich als lebensrettendes Mittel, getreu dem heutigen Narrativ. Allerdings gibt es Andeutungen, die darauf schließen lassen, dass die Mär von der Wirksamkeit des Impfstoffs in der fiktionalen Sphäre ironisch gebrochen wird. In einer Meldung wird zum Beispiel die zuständige DDR-Ministerin wiedergegeben, die behauptet, „es habe dadurch keine Engpässe für die Bevölkerung gegeben. Vielmehr sei die Lieferung des Impfstoffes als menschliche Geste gemeint gewesen, da westdeutsche Labore trotz massiven kapitalistischen Drucks nicht in der Lage gewesen seien, rechtzeitig einen hochwertigen Impfstoff gegen Covid-19 bereitzustellen.“
An dieser Stelle offenbart sich eine Parallele zur Diskussion um den russischen Impfstoff Sputnik V, der während der Corona-Krise in den westlichen Staat nicht anerkannt wurde – angeblich wegen mangelnder Qualität. Im Roman führt sie die Bundesrepublik als Grund für die vielen Impfschäden an. „Ein solider westdeutscher Impfstoff wäre uns lieber gewesen“, schreibt etwa der Twitter-Nutzer @LaubenpieperMitBart. Kreymeier greift damit die aktuelle Debatte über Nebenwirkungen auf und lässt die Sichtweise zu, dass die Überzeugung von der Wirksamkeit des Impfstoffs eben nur ein Narrativ auf der Handlungsebene darstellt und durchaus Kritikpunkte enthält, die den fiktionalen Bereich überschreiten. Die Deutung wird jedoch den Lesern selbst überlassen. Wer will, kann sogar in der beschriebenen DDR des digitalen Zeitalters das wiedervereinigte Deutschland der Gegenwart erkennen. Der Politthriller bietet sehr viel Interpretationsspielraum. Das allein macht ihn so lesenswert.
In diesem Zusammenhang ist der Roman von Andreas Eschbach „NSA – Nationales Sicherheits-Amt“ hochinteressant,
er beschreibt hier sehr eindringlich, was gewesen wäre, hätten die Nazis schon über die heutige Technologie verfügt.
Auch sehr zu empfehlen.