In der Politik geht es bisweilen zu wie auf der Bühne. Die vielen Intrigen, Grabenkämpfe und Korruptionsaffären liefern den Stoff, aus dem Theater-Dramen gemacht werden. Manchmal enthalten sie sogar alle wichtigen Zutaten, sodass es keiner Fiktionalisierung mehr bedarf. Ein gutes Beispiel ist die Causa Sebastian Kurz, die das Ensemble des Burgtheaters in Kooperation mit der Tageszeitung «Der Standard» prompt in Form einer Lesung inszeniert hat. Vorgetragen werden die pikanten Chat-Nachrichten, mit denen der mittlerweile zurückgetretene Ex-Kanzler Österreichs ins Fadenkreuz der Staatsanwaltschaft geraten ist. Die Vorwürfe enthalten viel Sprengstoff: Das Team um Sebastian Kurz soll Umfragen und die Berichterstattung der Mediengruppe ÖSTERREICH manipuliert und all das mit Steuergeld finanziert haben.
Die sogenannten Chatprotokolle, aus denen das Burgtheater-Ensemble vorliest, enthalten brisante Details, die zeigen, wie es hinter den Kulissen wirklich zugeht. Kurz agiert als Anstifter, als gewiefter Taktgeber, dem Leute wie der einstige Top-Beamte im Finanzministerium Thomas Schmid oder der Pressesprecher Johannes Frischmann den Rücken stärken. In der Inszenierung des Burgtheater-Ensembles kommt das deutlich zum Vorschein. Um sie zu sehen, braucht man kein Ticket. Die Lesung ist öffentlich verfügbar und lässt sich auf YouTube problemlos abrufen. „Damit Sie sich selbst ein Bild von den Vorwürfen machen können“, erklären Standard-Chef Martin Kotynek und Burgtheaterdirektor Maritn Kušej zu Beginn des knapp 20-minütigen Videos, habe man die wesentlichen Chats in fünfzehn Kapiteln dokumentiert.
Lebhafte Performance
Während der Schauspieler Daniel Jesch dem österreichischen Ex-Kanzler seine Stimme leiht, mimt Nils Strunk den Generalsekretär Thomas Schmid. Seine Performance ist die wohl energetischste. Strunk liest nicht nur, er geht in seiner Rolle auf. Gekonnt setzt er Mimik und Gestik ein, um den Charakter seiner Figur plastisch zu machen. Sympathisch wirkt sie nicht gerade. Schmids Chatbeiträge strotzen vor Chauvinismus und Arroganz, sie bilden das Psychogramm eines Funktionärs ab, dem es ausschließlich um Macht geht. Rechtsstaatliche Prinzipien zählen für ihn genauso wenig wie Rechtschaffenheit. Seine Großspurigkeit drückt sich nicht nur im Gesichtsausdruck Strunks aus, sondern auch in den verschränkten Armen, mit denen der Schauspieler die Wortmeldungen der anderen Beteiligten zur Kenntnis nimmt.
Die Darstellung Jeschs ist hingegen durch Zurückgenommenheit gekennzeichnet, durch die Österreichs Ex-Kanzler eine staatsmännische Aura bekommt. Dieses Selbstverständnis drückt sich unter anderem in seinen Chat-Nachrichten aus. Sie sind meist kurz, aber so formuliert, dass sofort verständlich wirkt, wer die Zügel in der Hand hält. Wie das System funktioniert, erläutert Jeschs Kollegin Dörte Lyssewski, die als Erzählerin fungiert. Sie leitet die jeweiligen fünfzehn Kapitel ein und liefert die nötigen Hintergrundinformationen, um den Zuschauern eine gewisse Orientierung zu ermöglichen. Der Skandal, heißt es an einer Stelle, basiere auf dem folgenden Mechanismus: „Das Team Kurz bestellt bei Sabine B. Umfragen, deren Veröffentlichung laut Ermittlern die öffentliche und innerparteiliche Meinung beeinflussen soll. Neben Thomas Schmid kümmert sich Johannes Frischmann um das Projekt. Er ist damals Pressesprecher im Finanzministerium und wird später zu Kurz wechseln. Vor dem Parteivorstand der ÖVP im Jänner 2017 wird eine Umfrage platziert, die Kurz als besseren Obmann erscheinen lässt.“
Authentische Darstellung der Kommunikation
Den angesprochenen Frischmann liest Christoph Luser, nicht ganz so elanvoll wie Strunk, aber mit einem Duktus, in dem sich realitätsgetreu die Sprödigkeit eines Funktionärs kundtut. Luser übernimmt zudem die Rolle des einstigen Finanzministers Hans-Jörg Schelling. In einer solchen Doppelfunktion treten auch Robert Reinagl und Regina Fritsch auf. Während sie die Chatnachrichten der Meinungsforscherin Sabine B. und der Schelling-Sprecherin abdeckt, liest Reinagl das vor, was Österreich-Herausgeber Wolfgang Fellner und «Presse»-Chefredakteur Rainer Novak geschrieben haben. Auf der Bühne sitzen alle Schauspieler nebeneinander an einem langen Schreibtisch, auf dem an jedem Platz demonstrativ ein Smartphone liegt. Wenn die Burgtheater-Darsteller die pikanten Chatprotokolle zum Besten geben, tragen sie nicht nur die ausformulierten Sätze vor, sondern nennen auch die verwendeten Emojis. Ausdrücke wie „Muskel“ oder „Bussi“ lassen somit die Kommunikation authentisch wirken. Sie geben ihr den letzten Schliff, durch den der Wahrheitscharakter zum Vorschein kommt.
Die «Causa Kurz» erweist sich als eine gelungene Darbietung, die auf ein aktuelles Ereignis eingeht. Sie lebt von einem ausgeprägten Aufklärungswillen, der in jedem Sprechakt durchschimmert. Die dargestellten Verwicklungen werden weder überdramatisiert noch rutschen sie ins Satirisch-Überspitzte ab. Das Burgtheater-Ensemble gibt dem Stück vielmehr einen ernsten Anstrich, sodass die Form widerspruchsfrei mit dem Inhalt korrespondiert. Und dennoch geht von der Inszenierung eine gewisse Ästhetik aus, die das Sujet leichter verdaulich macht. Genau darin liegt die Absicht: Die Zuschauer sollen gemäß der aristotelischen Forderung belehrt und unterhalten werden. Das steigert die Lust, sich mit dem dargestellten Thema intensiver zu beschäftigen. Angesichts der Vielzahl politischer Skandale darf die «Causa Kurz» durchaus als Anregung verstanden werden, solche Fälle öfter auf die Bühne zu bringen.