Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel soll im Jahr 2013 das Internet als Neuland bezeichnet haben. In dieses Dickicht aus Online-Shops, Informationsplattformen und sozialen Medien verschlägt es auch Alice, die Protagonistin des Autors Paul Andersson. Der Wahl-Münchner hat ein Kinderbilderbuch vorgelegt, das eine Mischung aus Märchen, Sachbuch und Erziehungsratgeber ergibt. Erzählt wird die Geschichte des Internets, allerdings auf verschiedenen Ebenen und so, dass diese miteinander korrespondieren.
Den Rahmen bildet das Abenteuer der kleinen Alice, die nicht umsonst einer berühmten Märchenfigur nachempfunden ist. Wie im Fall von Lewis Carolls Protagonistin beginnt auch ihre Geschichte mit einem Traum. Alice, in einer Höhle schlafend, begibt sich in eine Welt, wo Maschinen auf Knopfdruck Fertiggerichte servieren, wo niemand mehr arbeiten muss, weil alles von Robotern erledigt wird. Durch die Luft sausen Taxis. Automaten stellen Kleidung und Spielzeug her. In ihrem Traum designt Alice ein Kleid für eine Party der Königin von Neuland. Das kleine Mädchen will sie unbedingt treffen, vor allem als es aufwacht. Also wagt sie das Abenteuer.
Vergleiche und Sinnbilder
Wie Carolls «Wunderland» erweist sich auch Anderssons «Neuland» als ein Ort voller Absurditäten, Paradoxien und skurrilen Figuren. Er gleicht einem Zoo, in dem Alice vielen bunten Tieren begegnet – auch den «Großen Fünf», wie die fünf gefährlichsten Tiere in Afrika bezeichnet wurden. Im Neuland sind es aber nicht der Elefant, das Nashorn, der Büffel, der Löwe und der Leopard, sondern Microsoft, Apple, Amazon, Alphabet und Facebook. Vergleiche und Sinnbilder dieser Art ziehen sich durch die Lektüre. Andersson macht es sehr geschickt. Auf jede Episode aus dem Märchen lässt er einige Informationsseiten folgen, die so gewählt sind, dass sie sich unmittelbar auf die Ereignisse in der Geschichte beziehen. Es geht um die Funktionsweise von Suchmaschinen und Algorithmen, um Cookies und E-Commerce. Die kleinen Leser lernen nicht nur viel über die Geschichte des Internets, sondern erfahren auch, welche Gefahren dort lauern.
Teilweise handelt es sich um komplexe Zusammenhänge, die Kinder nur bedingt verstehen dürften. Doch der Autor bemüht sich um eine verständliche Aufbereitung, indem er eine einfache Sprache wählt und zur Veranschaulichung auf griffige Beispiele aus der Praxis zurückgreift. Den letzten Schliff geben Diagramme und grafische Darstellungen. „Das Märchen von Alice soll deine Kreativität wecken“, richtet sich Andersson zu Beginn an seine kleinen Leser. „Die Informationen dazwischen wollen dich ermutigen, alles kritisch zu hinterfragen.“ Das gilt auch für die Eltern, die sich im Neuland zwar ein bisschen besser auskennen, aber sicherlich auch neue, noch unerkundete Ecken finden werden.
«Alice im Neuland» eignet sich für Groß und Klein gleichermaßen. Das Buch ist informativ und ästhetisch ansprechend. Das liegt nicht nur an dem hochwertigen Papier, sondern auch an den schönen Illustrationen von Annamaria Papp-Ionescu, die aus verschiedenen Ebenen bestehen. „Der verschwommene Hintergrund und die skizzenartige, offene Form soll die Fantasie der Kinder beflügeln“, heißt es, „sie für die Probleme unseres Zeitalters durchlässig machen und in ihnen den Wunsch auf ein wahres Leben erwecken.“ Die angesprochenen Probleme haben in der Corona-Krise eine neue Dimension bekommen. Es wird immer deutlicher, dass die Herrschenden das Internet und andere digitale Tools dafür benutzen, um die Bevölkerung zu kontrollieren und zu überwachen, sie von ganz bestimmten Informationen abzuschneiden und wenn nötig aus dem gesellschaftlichen Diskurs zu verbannen. Die Technik entwickelt sich fortlaufend. Aber sie bringt nicht nur Vor-, sondern auch Nachteile. Deshalb sollte der Nachwuchs schon früh anfangen, sich mit den verschiedenen Ausformungen der Digitalisierung auseinandersetzen. Paul Anderssons Kinderbilderbuch schafft dafür eine formidable Grundlage.
– Paul Andersson: Alice im Neuland, massel Verlag, Preis: 23,00 €, bestellbar unter: https://verlag.massel.net/