3. Dezember 2024

Fraktionszwang

Kurzgeschichte

Schneider klopfte zweimal und öffnete die Tür, ohne abzuwarten. Das Erste, was er sah, war ein riesiges Gemälde mit flimmernden, vielfarbigen Streifen. Der neue Gerhard Richter, erkannte Schneider sofort. Das letzte Mal hing doch das Gemälde noch nicht hier, versuchte er sich zu erinnern. Seitdem Kämmer zum Innenminister ernannt worden war, hatte Schneider ihn im Büro nicht mehr besucht. Es schien komplett umgestaltet zu sein. Nur das Bücherregal mit den dicken Gesetzesbüchern stand noch in der rechten Ecke. „Schneider, mein Lieber, da bist du ja“, sagte Kämmer, der sich von seinem Wildledersessel erhob und mit ausgestreckter Hand um den englischen Mahagonitisch ging. Schneider begrüßte ihn mit einem Lächeln, das wohl zu viel von dem Knacks verriet, den ihre jahrelange Freundschaft bekommen hatte. „Sachte, sachte, Schneider, ich habe noch kein Wort gesagt, und du machst schon so ein Gesicht“, sagte Kämmer augenzwinkernd. „Und was ist das für ein läppischer Handschlag. Ich habe das Gefühl, dass du zunehmend verweichlichst. Hast du vergessen, auf welchem Feld wir kämpfen? Wenn du so weiter machst, wirst du gnadenlos zerrissen – von diesen Wölfen da.“ Er wies mit leichter Kopfbewegung in Richtung Tür. „Sie lauern doch überall, diese Bestien. Setzt dich, Schneider, wir müssen reden“, sagte er und formte sein Lächeln wieder zu einem ernsten Strich. Schneider ahnte, worüber Kämmer mit ihm sprechen wollte, wartete aber die Eröffnung ab. Erst danach würde er die Strategie festlegen. Jeder Zug musste gut überlegt sein.

„Ich hoffe, du überdenkst noch einmal dein Vorhaben, Schneider“, sagte Kämmer schließlich und strich mit seiner rechten Hand über sein gegeltes Haar.

„Welches Vorhaben meinst du?“

„Hör auf, Schneider. Du weißt, was ich meine.“

„Mir scheint, du bist hier derjenige, der viel weiß – sogar, was in meinem Kopf vorgeht.“

Kämmers schwarze Augen glänzten finster. Er nahm sich einen Moment und richtete demonstrativ den Knoten seiner gestreift-gelben Krawatte. „Du willst dagegen stimmen, habe ich recht?“

„Kann schon sein“, sagte Schneider etwas kokett.

„Verdammt noch mal, Schneider! Das ist hier kein Spiel!“

„Woher weißt du überhaupt, dass ich dagegen stimmen will?“

„Du wirst immer kauziger, Schneider. So etwas spricht sich herum. Die Leute tuscheln. Ihnen entgeht nicht, wie du dich benimmst. Wie du ständig widersprichst und querschlägst. Du glaubst doch nicht, dass das an mir vorbeigeht. Zumal dein Assistent nicht gerade einsilbig ist.“

Dänisches Gambit, ein klassischer Kämmer. Seit Schneider ihn in der Schach-AG kennengelernt hatte, spielte er diese Eröffnung. Ein paar kleine Opfer, aber dafür schnell Raum für weitere Angriffe geschaffen. Aggressiv wie eh und je. Anders wäre er in der Politik nie so weit gekommen. Schneider blickte aus dem Fenster in das matte Novembergrau. Es hatte wirklich keinen Sinn, es abzustreiten. Ihm war doch klar, dass es alle wussten. Er war schon seit Monaten als Abweichler verschrien. Er musste Kämmers Druck nachgeben, ohne die eigene Würde zu verlieren. „Ja, ich werde dagegen stimmen“, sagte er ruhig und verharrte mit seinem Blick in den tiefhängenden Wolken. Kämmer hatte diesen Zug erwartet. „Ich kann das nicht zulassen“, erwiderte er prompt. „Das Infektionsschutzgesetz muss geändert werden. Da führt kein Weg dran vorbei.“

„Kämmer du redest wie die Kanzlerin. Als wäre alles alternativlos. Wieso muss es geändert werden? Warum so schnell? Warum nicht ein bisschen warten, ein bisschen abwägen, Ruhe bewahren?“

„Ruhe bewahren“, wiederholte Kämmer hämisch. „Die Jahre als Hinterbänkler haben deinen Verstand abgestumpft. Wir müssen jetzt handeln, verstehst du. Wenn wir nicht aufpassen, sind die Straßen voll mit diesen Leugnern und Schwurblern, und zwar täglich. Dann geht es uns allen an den Kragen, verstehst du das nicht!“

„Du übertreibst, Kämmer. Irgendwo haben diese Leute ja Recht. Die Maßnahmen richten auch Schaden an, nicht zuletzt einen wirtschaftlichen. Viele haben ihre Jobs verloren. Die Kinder bewegen sich kaum, und die Alten leiden an Einsamkeit. Wir müssen doch Vor- und Nachteile in ein verhältnismäßiges Maß bringen.“

„Es ist verhältnismäßig“, erwiderte Kämmer bestimmt. „Die Maßnahmen sind verhältnismäßig! Hör auf, dir etwas anderes einzureden. Du sprichst schon wie die da draußen.“ Er wies mit dem Zeigefinger zum Fenster und deutete nach unten, wo Demonstranten pausenlos „Frieden, Freiheit, keine Diktatur“ skandierten. „Wir müssen sogar ein bisschen nachschärfen“, fuhr er fort. „Du merkst doch, dass manche Verwaltungsgerichte uns das Leben schwer machen. Eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes ist unabdingbar, wenn wir die Kontrolle behalten wollen. Sonst entgleitet uns das ganze Land. Und dann ist auch dein bequemes Leben vorbei. Mensch, Schneider, besinn dich doch. Du hast hier Bedingungen, von denen andere nur träumen. Keinen Druck, keine Verantwortung. Hin und wieder mal eine Ausschusssitzung, ab und an eine Abstimmung. Ansonsten kannst du dir doch einen faulen Lenz machen. Diese Zeit geht auch irgendwann mal vorbei. Bleib ruhig, spiel einfach mit. Dann gefährdest du auch nicht deine Position.“

„Was macht es schon für einen Unterschied, ob ich dafür oder dagegen stimme. Wir Abweichler sind doch ohnehin in der Minderheit.“

„Wir“, wiederholte Kämmer und blickte ihm grimmig in die Augen. „Das ist das falsche Wir, Schneider. Die Fraktion ist deine Familie. Das solltest du niemals vergessen.“

„Die Fraktion verschließt aber die Augen“, entgegnete Schneider energisch. „Sie sollte zumindest Raum für Diskussionen lassen.“

„Nicht in dieser Sache. Eine Lockerung der Einschränkungen ist einfach nicht unsere Haltung.“

„Das ist keine Haltungs-, sondern eine Sachfrage.“

„Doch ist es.“ Kämmer richtete seinen rechten Zeigefinger langsam nach oben aus. „Es ist ihre Anordnung, und wir haben uns daran zu halten. Wir, die Fraktion! Hast du das verstanden, Schneider? Wir sind die führende Regierungspartei. Wir müssen unser Gesicht wahren. Wie würde es aussehen, wenn wir nicht geschlossen aufträten?“

„Als Abgeordneter bin ich nicht der Partei, sondern allein meinem Gewissen unterworfen.“

Kämmer lachte laut auf und schien, alle Beherrschung verloren zu haben. „Du bist und bleibst ein Romantiker, Schneider.“

„Aber du warst das doch auch.“

„War, Schneider, war! Aber ich habe gelernt, ich habe mich weiterentwickelt. Und du solltest das endlich auch. Es ist ein ernstes Spiel, das wir hier spielen. In diesem Betrieb wird mit harten Bandagen gekämpft. Fressen oder gefressen werden. Deinem Gewissen folgen, ich bitte dich. Du folgst deiner Fraktion und sonst niemandem!“

„Wie konntest du nur so schnell deinen moralischen Kompass verlieren!“

„Ich bin Pragmatiker, Schneider.“

„Du warst aber ein Idealist.“

„In gewisser Weise bin ich das immer noch.“

„Nein, du hast keine Ideale mehr.“

„Doch habe ich, sie sehen nur anders aus.“

Auch das war typisch für Kämmer. Sobald er sich einen Vorteil erspielt hatte, ging er sofort zum rasanten Abtausch der Figuren über, um den Druck zu erhöhen. Schneider wusste, was nun passieren würde. Er musste sich auf einen tückischen Angriff gefasst machen. „Du redest dir das nur ein“, konterte Schneider. „Um dein Gewissen zu beruhigen. Du spielst dir was vor, damit du dich nicht in Grund und Boden schämen musst, wenn du mal wieder in den Spiegel schaust. Und das passiert in letzter Zeit häufiger, habe ich Recht? Schau mal wie du aussiehst, Kämmer. Mehr Staranwalt als Volksvertreter! Du warst ja schon immer auf Geltung bedacht, aber mittlerweile merkst du nicht einmal, wie deine Eitelkeit dich überstrahlt.“

„Und du wirst immer mehr zum Moralapostel“, parierte Kämmer mit einem Gegenangriff. „Aber dein imaginierter Heiligenschein wird dich in dieser Angelegenheit nicht retten.“ Er wartete einen Augenblick, um dann blitzschnell das Endspiel einzuleiten. „Wenn du dagegen stimmst, hängen wir dir was an.“

„Bitte? Mir was anhängen? Im Gegensatz zu dir habe ich eine reine Weste.“

„Wir alle haben etwas auf dem Kerbholz“, sagte Kämmer gelassen. „Das weißt du ganz genau, Schneider. Sonst wären wir nicht hier. Außerdem hat mir Marx schon ein paar Unterlagen über dich zukommen lassen.“ Marx, natürlich, ein treuer Parteisoldat wie Kämmer und seit der Beförderung zum Verfassungsschutz-Präsidenten verbissener denn je.

„Du erinnerst dich doch sicherlich noch an die Aserbaidschan-Geschichte“, sprach Kämmer im schnippischen Ton weiter.

„Ja, aber ich habe eine unwesentliche Rolle gespielt.“

„In unseren Händen wird sie wesentlich. Mensch, Schneider, ich rede hier als Freund mit dir. Komm endlich zur Vernunft. Deine Immunität wird aufgehoben. Du verlierst dein Mandat, du wirst angezeigt und strafrechtlich verfolgt. Wenn es sein muss, dein Leben lang.“

„Ihr könnt mir nichts anhaben“, widersetzte sich Schneider. „Müller ist es, der das Geld annahm. Ich wusste lediglich davon – weil er es mir erzählt hatte. Er kam in mein Büro, um meinen Rat einzuholen. Und ich war dagegen. Ich sagte ihm, er solle die Finger davon lassen. Ich flehte ihn regelrecht an.“

„Siehst du, siehst du“, sagte Kämmer und schüttelte mitleidig den Kopf. „Damit stehst du mit einem Bein drin. Und Müller, du verzeihst mir den Ausdruck – den haben wir auch an den Eiern. Seine Tochter ist RBB-Intendantin, wenn ich dich erinnern darf. Und sein Sohn das Gesicht der deutschen Abendnachrichten. Er hat ein bisschen mehr zu verlieren als du.“ Kämmer machte eine künstliche Pause und presste die Lippen zusammen. „Du kannst dir vorstellen, zu wessen Gunsten er aussagt.“

„Das ist kriminell“, schrie Schneider auf. „Und selbst für deine Verhältnisse absolut niveaulos!“

Kämmer griff in eine Schublade und holte eine Schwarzweiß-Fotografie heraus, die er ihm genüsslich über den Tisch schob. Schneider erkannte sofort, wann es geschossen worden war. Im Da Lilo nach dem Konzert zum Jubiläum der deutsch-aserbaidschanischen Freundschaft im Januar letzten Jahres. Kämmer hatte sich damals vor der Lokaltür vorzeitig verabschiedet. Zu sehen war, wie der aserbaidschanische Botschafter mit ernster Miene Schneider ein Glas Rotwein reichte. „Schau dir das gut an“, sagte Kämmer, bevor er aufstand und sich über die Fotografie beugte, als wollte er seinen finalen Zug feierlich einrahmen. „Siehst du das Weinglas hier? Mit der heutigen Technik kann man daraus einen Umschlag machen und ihn so aussehen lassen, als wäre da ein hübscher Stapel Scheine drin. Verstehst du mich, Schneider?“

„Das würdest du nicht …“, er konnte seinen Satz nicht zu Ende sprechen, weil Kämmer ihn sofort übertönte. „Nein, du sagst jetzt kein Wort mehr. Du gehst jetzt hier raus, nimmst dieses Foto mit und überlegst dir sehr genau, wie du später abstimmen willst. Hast du mich verstanden?“ Schneider nickte träge. Er wusste, dass er Matt gesetzt worden war.

„Gut“, sagte Kämmer die Tür öffnend. „Gut! So ist es gut, Schneider!“

Titelfoto: Pixabay/falco

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