In Österreich herrschen seit knapp zwei Jahren quasi italienische Zustände. Ein Rücktritt folgt dem nächsten. Während man hierzulande darauf wartet, bis endlich politische Köpfe rollen, findet in der Alpenrepublik auf den wichtigen Positionen viel Bewegung statt. Es entsteht der Eindruck, als könnte jeder mal ran. Dieser Gedanke war der Ausgangspunkt für das neue Lied des bayrischen Musikers Augustin, der es mit seiner Bekannten Helga Reiter produziert hat. Von ihr kam auch die Idee, als beide eines Tages auf der Terrasse zusammensaßen und über die aktuelle politisch-gesellschaftliche Situation sinnierten. Prompt stand nach wenigen Minuten die Hookline für einen Song: „Jeder darf mal ran, jeder kommt mal dran.“
Helga Reiter, eine Nachfahrerin von Holocaust-Überlebenden, die sich in der Wiener Organisation «Juden für Aufklärung» engagiert, war der Meinung, dass der Song auf Demos gespielt werden könnte. Augustin sah das genauso und nahm das Projekt in Angriff. Am 10. September feierte «Jeder» auf der großen Demonstration in Wien schließlich seine Premiere. „Ob Basti, ob Schalli, oder der Verseuchte“, beginnt der Song, indem er ein paar Personen der rochierenden Politikerriege nennt. „Ob Pamela, Beate, oder die Karolein / ’s werd‘n alle nur kurz / 90 Tschick lang / nur im Amte sein… / oh yeah.“ Gesungen werden diese Zeilen in einem Dialekt, der zwischen Alpenland-Slang und Wiener Underground oszilliert. Zwischendurch ertönt eine Soundcollage mit Original-Zitaten österreichischer Politiker, die landesweit gut bekannt sind. „Desinfektionsspender ist ein Ort der Nächstenliebe“, lautet eines, das auf Wolfgang Mückstein zurückgeht. Ein anderer kerniger Spruch stammt von ÖVP-Verfassungsministerin Karoline Edtstadler: „Der einzige Weg ist raus aus der Demokratie“.
Mehrere Interpretationsmöglichkeiten
Das Besondere an dem Song besteht darin, dass er viel Raum für verschiedene Interpretationen lässt. Der Titel referiert gewissermaßen an die berühmte Aussage des Pop-Art-Künstler Andy Warhol, der einmal sagte, dass in Zukunft jeder 15 Minuten weltberühmt sein werde. „So ist es heute mit den Politikern“, sagt Augustin. „Du brauchst keine Qualifikationen, um Minister oder Kanzler zu werden.“ Jeder könne ein Politiker sein. Der Titel biete zudem eine weitere Interpretation an, so der Musiker: „Im juristischen Sinne könnte man es so verstehen: Wartet, ihr kommt bald auch auf die Anklagebank!“ Ein solcher Song sei ein wirksames Mittel, um den vielen lügenden Figuren, die die Macht missbrauchen und so viel zerstören, den Spiegel vorzuhalten und schließlich mit schwarzem Humor sowie Sarkasmus der Lächerlichkeit preiszugeben.
Augustin bezeichnet diese Herangehensweise als „wertvolle Aufgabe des Hofnarren“, womit er unter anderem auf die Kritik innerhalb der Protestbewegung reagiert. Dass auf Demonstrationen Musik gespielt wird, finden nicht alle gut, die seit der Corona-Politik auf die Straße gehen. Augustin sieht es differenziert: „Ich bin auch der Meinung, man sollte nicht irgendeine Musik spielen, nur so zum Entertainment. Das ist kontraproduktiv und banalisiert nur die oppositionelle Energie. Aber Songs, die eine konkrete und passende Message haben, zum passenden Zeitpunkt, geht schon.“ Hohn- und Spott-Lieder seien besonders gut geeignet: „Wer lacht, hat keine Angst“, so der Musiker. „Mit bauernschlauem Spaß der Lüge die Luft rauslassen, das schafft Leichtigkeit – mögen die Themen und Anliegen auch noch so ernst sein.“
Passendes Lied für Demonstrationen
Mit «Jeder», das ist eine weitere mögliche Interpretation, könnten auch die Bürger gemeint sein, die ebenfalls irgendwann mal an die Reihe kommen, für den Protest auf die Straße zu gehen – wenn ihre rote Linie überschritten ist. Eine Strophe bringt es so zum Ausdruck: „Sag was willst Du? / Willst weinen, willst lach’n / Willst Angst hab’n oder Freud‘? / Willst Dir in’d Hos’n machen / Oder bist mit uns bereit?“ Im Musikvideo wollen Augustin und Helga Reiter es so darstellen, dass im Laufe des Demonstrationszugs immer mehr Menschen aus ihren Häusern hinausgehen und sich der Masse anschließen. Der Song ermutigt dazu auf der musikalischen Ebene, weil er rhythmisch so aufgebaut ist, dass man gut darauf laufen kann. „Auch das macht ihn zu einem passenden Demonstrationslied“, sagt Augustin.
Die beiden Künstler sehen sich in der anarchisch-komödiantischen Tradition von solchen Vorbildern wie Weiss Ferdl, Karl Valentin oder Hallucination Company und planen weitere musikalische Narrenstreiche. „Wir haben schon einiges in der Pipeline“, so Augustin, der aus «Jeder» zudem eine komplett deutsche Version produzieren möchte. Dafür will er nicht nur einen anderen Strophentext einsingen, sondern auch Original-Zitate hiesiger Politiker einbauen. Die Hörer dürfen sich auf Aussagen freuen, mit denen in der Vergangenheit so schillernde Figuren wie Annalena Baerbock, Markus Söder, Ursula von der Leyen oder Karl Lauterbach aufgefallen sind.