21. November 2024

«Abteil Nr. 6» – Ein russisch-finnischer Film über kulturelle Unterschiede und Annäherung

Der Ukraine-Konflikt lässt im Westen die Emotionen hochkochen. Das führt zu irrationalen Reaktionen, die in Diskriminierung münden. Was einen Bezug zu Russland aufweist, wird boykottiert oder ausgegrenzt – auch in der Kulturbranche. Künstler müssen ihre Posten räumen, wenn sie sich nicht von Putin distanzieren. Stars sagen Auftritte ab, weil ihnen wegen ihrer Herkunft Nachteile drohen. Und Festivals laden Filme aus, wenn in ihnen russische Darsteller mitspielen. Das ist unter anderem dem Streifen «Abteil Nr. 6» passiert. Dabei geht es in der russisch-finnischen Co-Produktion um kulturelle Verständigung, um Annäherung und Verständigung trotz Unterschiede.

Die Handlung ist in den späten Neunzigern der Post-Sowjet-Ära angesiedelt, in einer Zeit, in der sich die Digitalisierung noch nicht in jedem Winkel des täglichen Lebens ausgebreitet hat. Die finnische Studentin Laura (Seidi Haarla) befindet sich in Russland und bemüht sich nicht nur, die russische Sprache zu lernen, sondern auch die Kultur ihres Gastlandes zu verstehen. In Moskau bewegt sie sich im Umkreis ihrer Liebhaberin Irina, einer charismatischen Intellektuellen, deren Altbauwohnung als Treffpunkt für die Hauptstadtboheme fungiert. Schon die ersten Szenen führen vor Augen, dass Laura in diesem Milieu um Orientierung ringt. In ihren Gesichtszügen liegt ein Gefühl der Nichtzugehörigkeit.

Parcours der Selbstfindung

Diese Unsicherheit setzt sich im weiteren Verlauf fort, wenn die Protagonistin einen Zug nach Murmansk besteigt, um sich in der Hafenstadt die berühmten Petroglyphen anzuschauen, in Fels gravierte Bilder aus archaischer Vorzeit. Dass die 2000 Kilometer durch die unendliche Taiga ihr emotional einiges abverlangen werden, kann Laura noch nicht wissen. Doch die Reise entpuppt sich als eine Läuterung der Seele, als ein Parcours der Selbstfindung. Dazu trägt vor allem ihr Nachbar im titelgebenden Abteil Nr. 6 bei. Der russische Minenarbeiter Ljoha (Yuriy Borisov) entspricht nun ganz und gar nicht dem Typ des Intellektuellen, den sie von den Moskauer Partys ihrer Liebhaberin kennt. Er ist ungehobelt, trinkt literweise Wodka und lässt jegliche Bildung vermissen. Die ersten Minuten mit ihm sind für Laura so schwer zu ertragen, dass sie fluchtartig das Abteil verlässt und beim nächsten Stopp in St. Petersburg überlegt, wieder zurück nach Moskau zu fahren.

Es kommt anders, für die Zuschauer allerdings nicht unbedingt überraschend. Der Handlungsverlauf entspricht durchaus den Erwartungen an solche Filme und liegt in der Figurenkonstellation begründet. Ljoha erweist sich als ein Mensch mit sanftmütigem Kern, dessen rohe Art als Panzer dient, um die eigene Unsicherheit zu verhüllen. Diese Strategie ist auch Laura nicht fremd, nur dass die Finnin sie am Anfang ihrer Reise nicht wahrnimmt. Anders als Ljoha flüchtet sie nicht in eine selbstbewusst wirkende Proletariermentalität, sondern in eine aufgesetzte Intellektualität. Über diese Gemeinsamkeit nähern sie sich nach und nach an, ja entwickeln sogar Gefühle füreinander.

Annäherung auf mehreren Ebenen

Regisseur Juho Kuosmanen inszeniert diese Romanze in weitgehend ruhigen Bildern, in denen eine naturalistische Ästhetik zum Vorschein kommt. Das Leben wirkt noch weitgehend entschleunigt, aber nicht weniger konfliktreich. Seine Figuren verdeutlichen, dass die größten Auseinandersetzungen in unserem Inneren stattfinden und dann mit voller Wucht durchbrechen, wenn Menschen aufeinandertreffen. Beide, Laura und Ljoha, erkennen ihre charakterlichen Mängel, die tief in der Seele ihr Unwesen treiben. Die Begegnung verhilft ihnen, die psychischen Wogen zu glätten.

Diesen Gesichtspunkt beleuchtet der Film auch auf einer übergeordneten Ebene, indem er das Verhältnis zwischen Russland und Finnland thematisiert. Beide Länder verbindet eine konfliktbehaftete Geschichte. Finnland war knapp hundert Jahre eine russische Republik und erlangte erst mit Gründung der Sowjetunion vollständige Unabhängigkeit. In der Spätphase des zweiten Weltkrieges hätte nicht viel gefehlt, da wäre das skandinavische Land von der UdSSR besetzt worden. Nach deren Zusammenbruch verbesserte sich die Situation; es kam zu einer Annäherung die Laura und Ljoha im Film gewissermaßen symbolisieren. Diesen Aspekt der Völkerverständigung sollten sich all jene vor Augen halten, die den Film jetzt zu boykottieren beabsichtigen.

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