Der Historiker und Kindheitsforscher Michael Hüter hat einen vielbeachteten Essay über die „Letzte Generation“ geschrieben. Gemeint ist nicht „die kleine Gruppe der masochistisch-narzisstischen und zuweilen radikalen Klimakleber“, wie er schreibt, sondern „die große Mehrheit der derzeit 35- bis 65-Jährigen“. Sie seien es, die seit über einem Jahrzehnt alles zu Grabe tragen: „Handwerk, Kunst, Natur- und generell Bewusstsein, Humanismus, universelle Werte, Verbindlichkeit, wahre (Menschen-)Bildung und Würde, Achtung vor allem Lebendigen, kurz: europäische Kultur.“ Hüter hat seinen Essay «Der Untergang des Abendlandes» genannt und ihn an Oswald Spenglers gleichnamiges Werk angelehnt, in dem zumindest einige Aussagen hochaktuell wirken.
Die auf Rubikon erschienene Schrift wurde nun szenisch verfilmt, so authentisch wie möglich, um dem brisanten Inhalt mit Bildern mehr Emphase zu verleihen. Regie führte Claudia Jaworski, die gleichzeitig als Darstellerin in Szene tritt und zu Beginn des 28-minütigen Films erläutert, was diesen Essay so lesenswert macht. Hüter zeichnet darin in einfühlsamen Worten den schleichenden demografischen Untergang nach, indem er mit Zahlen und einem kritischen Blick auf die Entwicklung in verschiedenen sozialen Bereichen zeigt, wie prekär sich die Situation für die nächsten Generationen darstellt – nicht nur in Deutschland, sondern EU-weit.
Anstieg von Krankheiten und Drogenkonsum
Als Referenzzeitraum wählt er das vorherige Jahrzehnt, in dem jedes zweite Kind zumindest ein einer chronischen Krankheit gelitten haben soll. „Jedes vierte Kind brauchte irgendeine Therapie“, so der Historiker weiter. „Die vierthäufigste Todesursache unter den Erwachsenen lautete Krebs! — Und der ist längst auch bei Kindern im Vormarsch.“ In die Höhe gingen auch die Zahlen bei schweren Kriminaldelikten sowie Drogen- und Alkoholkonsum. Trennungen im Elternhaus dürften diese Entwicklung befeuern: „Bis zum 6. Lebensjahr eines Kindes waren bereits etwa 50 Prozent der Eltern in Trennung oder schon getrennt. Bis zum 10. Lebensjahr erlebten nur noch etwa 15 Prozent der jungen Menschen ihre Eltern als gemeinsames Paar im gemeinsamen Haushalt!“ Hinzu kämen steigende Kinderarmut und eine Mentalität der Resignation, die sich mit politischer Lethargie paare.
Diese geistige Entwicklung habe die „Letzte Generation“ mit zu verantworten – „seit beinahe fünf Jahrzehnten“. In dieser Zeit sei eine Gesellschaft entstanden, „in der die Jugend nicht mehr hinterfragt, nicht aufbegehrt und sich den ‚Alten‘ zuerst einmal widersetzt, sondern stattdessen blind gehorcht“. In diesem Zusammenhang zieht Hüter Parallelen zu George Orwells «1984» und Aldous Huxleys’ «Schöne neue Welt». Die Kernaussagen aus diesen beiden Werken nutzt schließlich auch Claudia Jaworski für ihre szenische Verfilmung. Als Kulisse hat sie sich ein marodes und abbruchreifes Gebäude ausgesucht, das den gesellschaftlichen Verfall symbolisieren soll. Während sie die Treppen hochsteigt und Hüters Essay von einem Blatt abliest, stehen auf den Wänden Original-Zitate geschrieben: „Krieg ist Frieden“, „Freiheit ist Sklaverei“ oder „Unwissenheit ist Stärke“. Jaworski gibt den Text nicht monoton wieder, sondern setzt ihren Körper ein, drückt gespielt-ironische Freude aus und bezieht die Aussagen entweder auf die Corona-Politik oder den Ukraine-Krieg, um zu veranschaulichen, wie viel Wahrheitsgehalt in den beiden Literaturklassikern liegt.
Nuanciertes Schauspiel
Jaworski versucht Hüters Thesen in Bilder zu übersetzen. Dafür zieht sie mal an einer Zigarette oder nimmt einen großen Schluck aus einer Sekt-Flasche, wenn es um den Anstieg des Drogenkonsums geht. Als die demografische Entwicklung zur Sprache kommt, begibt sich die Darstellerin in die Rolle einer Referentin, die bei einem Vortrag mit kleinem Stöckchen Zahlen und Grafik erklärt. Zwischendurch werden Stimmungsbilder eines Kindes erzeugt, das sich ebenfalls im Haus befindet, während draußen eine Protestaktion der Klimakleber stattfindet – um die es ja, wie Jaworski in Anlehnung an Hüters Essay betont, „nicht geht“. In ihrem Spiel zieht die Darstellerin alle Register. Nuanciert setzt sie sowohl Mimik als auch ihre Stimme ein. Sie macht Pausen, schaut bedeutungsvoll in die Kamera oder liest die eine oder andere Stelle mit gesteigerter Betonung vor. Als Regisseurin arbeitet Jaworski minimalistisch, schafft es aber problemlos, den essayistischen Inhalt mit nur wenig Aufwand zu visualisieren.
Die szenische Verfilmung erzeugt den Eindruck, als würde man ein Theaterstück im Freien schauen. Mit der Unmittelbarkeit der Inszenierung werden die Zuschauer effektvoll in die Gedankenwelt von Hüters Essay hineingezogen, der tatsächlich viele interessante Punkte enthält. Wer um die nächsten Generationen besorgt ist, sollte sich zunächst auf das geistige Klima konzentrieren, lautet die Hauptmessage. Eine Lösung präsentiert Hüter nicht, aber er umreist die Missstände so eindrucksvoll, dass leicht verständlich wird, an welchen Stellschrauben man drehen muss, damit der Nachwuchs wieder optimistisch in die Zukunft blicken kann. Es ist ein Appell an die „Letzte Generation“. Damit er eine gewisse Wirkung entfaltet, versucht die szenische Inszenierung die intellektuelle Sphäre zu überschreiten und die Botschaft auch sinnlich zu übermitteln.