Wie andere Kulturzweige hält sich der Literaturbetrieb mit Kritik an der Corona-Politik zurück. Im Gegenteil: Die Institutionen befolgen sie regierungskonform und setzen alle Maßnahmen um, ohne Ausnahmen zu machen. Ein gutes Beispiel ist der Wettbewerb um den renommierten Ingeborg-Bachmann-Preis, der seit 1977 in Klagenfurt im Rahmen der Tage der deutschsprachigen Literatur vergeben wird. Seine Verleihung findet dieses Jahr am 26. Juni statt. Wer dort teilnehmen möchte, muss vollimmunisiert sein und einen aktuellen Test vorzeigen. Die große Aufregung über diese Entscheidung bleibt aus. Nur ein Autor findet deutliche Worte: Jan David Zimmermann.
In einem offenen Brief an die Organisatoren lässt er seinem Ärger freien Lauf und spricht aus, was er von der 2G-Plus-Regel hält: „Ursprünglich wollte ich dieses Jahr einen Text einreichen, um bei der Veranstaltung in Klagenfurt teilzunehmen“, beginnt er seine Schrift fulminant. „Ich bin jedoch 1. kein reibungsloser Autor und produziere 2. grundsätzlich KEINE vollimmunisierten Texte. Daher werden Sie dieses Jahr und wohl auch in Zukunft auf mich als lesender Teilnehmer verzichten müssen.“ Was folgt, ist eine schonungslose Abrechnungen. Er könne es nicht verstehen, was der Impfstatus mit der Qualität literarischer Texte zu tun habe. Zimmermann erinnert die Organisatoren daran, dass Kunst und Literatur der Politik eigentlich auf die Finger schauen müsste. Sie müssten hinterfragen und thematisieren, ob bestimmte gesellschaftliche Regeln eine Berechtigung hätten.
Literarische Werke, so Zimmermann, hätten die Aufgabe, „Macht und Politik zu sezieren, zu analysieren und zu kritisieren“. Davon sei in den letzten zwei Jahren nichts zu spüren gewesen. Stattdessen hätten sie tatenlos zugeschaut, wie Teile der Politik, etablierter Medien und der Bevölkerung die sprachliche Eskalation schlicht übernehmen oder gar forcieren. Das entspreche nicht dem Selbstverständnis der Literatur, das sie seit jeher zu pflegen versuche: „Wenn die Sprache der Öffentlichkeit zu einer Sprache des Autoritären, zu einer Sprache der Ausgrenzung, zu einer Sprache des Hasses wird, dann muss die Literatur einschreiten und darauf aufmerksam machen.“
Messen mit zweierlei Maß
In diesem Duktus geht es munter weiter. Zimmermann akzentuiert die heuchlerische Haltung des Literaturbetriebs, der sonst gegen Diskriminierung und Hate-Speech vorzugehen vorgibt, aber die Augen verschließt, wenn Ungeimpfte ausgegrenzt werden. Es sei ein „Denken, Sprechen, Schreiben und Handeln, das die Begriffe Vernunft, Logik und Solidarität semantisch umdeutete. Alles im Sinne einer neuen Normalität, die eine neue Realität einleitete. Eine Realität der Umkehrung, des Populismus und des Autoritarismus.“
Zimmermanns Brief ist ein mutiger Auftritt, wortgewaltig und treffend, ein Text, für den allein er den Ingeborg-Bachmann-Preis mehr als verdient hätte. Allerdings sind Verleihungen dieser Art ebenfalls politische Veranstaltungen. Wie die Wissenschaft sind sie gar nicht mehr so unabhängig und frei, sondern orientieren sich an der herrschenden Meinung, die ideologisch grundiert ist. Dass in ihr ein Hauch Totalitarismus zum Vorschein kommt, fällt den heutigen Literaturinstitutionen und Autoren gar nicht auf – oder will nicht auffallen. Wo sind die heutigen Literaten vom Schlage Heinrich Bölls oder Alexander Solzhenitsyn? Wo sind die Intellektuellen, die sich einmischen und gegen den Strom schwimmen? Den meisten großen Namen fehlt es an Mut. Wer ihn aufbringt, sind wieder einmal Newcomer – wie auch in der Musik und der bildenden Kunst. Mit seinem Brief zeigt Zimmermann jedoch, dass literarische Qualität im Inhalt der Worte sichtbar wird – nicht in der Größe des Namens.