Die Weltgeschichte ist voller Revolutionen. Wenn Menschen in Massen auf die Straße gehen, mit erhobenen Fäusten Parolen skandieren, ja gar zur Gewalt greifen, scheint die Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen sozialen wie politischen Situation ihren Höhepunkt erreicht zu haben.
Pointierter hat dieses Kippmoment der polnische Schriftsteller Ryszard Kapuściński ausgedrückt: „Alle Bücher über Revolutionen beginnen mit einem Kapitel, in dem von der Fäulnis der zerfallenden Macht oder dem Leiden des Volkes die Rede ist. Dabei sollten sie eher mit einem Kapitel Psychologie beginnen, das davon handelt, wie ein gepeinigter, furchtsamer Mensch unversehens seine Angst ablegt und Mut fasst.“ Kapuściński ist eine der Hauptfiguren in Andreas Hoesslis Filmessay «Der nackte König», der am 11. Februar bundesweit zunächst online startet. Der polnische Schriftsteller reiste 1979 nach Teheran, um über die iranische Revolution zu berichten.
Damals protestierte das Volk geschlossen gegen den Schah Reza Pahlavi. Als dieser unter zunehmendem Druck das Land verließ, kehrte aus dem Exil der einflussreiche Imam Ruholla Chomeini zurück und gründete die Islamische Republik. Knapp ein Jahr später gingen auch in Polen Menschen auf die Straße. Es waren vornehmlich Arbeiter um die neu gegründete Gewerkschaft Solidarnosc, die der Parteimacht im real existierenden Sozialismus die Stirn zu bieten versuchten.
Bekanntlich gingen die Proteste in den beiden Ländern unterschiedlich aus. Während in Polen die Massenstreiks niedergeschlagen wurden, übernahm im Iran eine religiös-autoritäre Elite die Macht. Regisseur Hoessli springt in seinem Film zwischen diesen Ereignissen, blendet beeindruckende Archivaufnahmen ein, verbindet sie mit Szenen aus der Gegenwart und lässt Zeitzeugen zu Wort kommen, die ihre Erlebnisse kommentieren. So konventionell die Machart ist, so überraschend erscheint der Zusammenhang zwischen der iranischen Revolution und dem revolutionsartigen Arbeiterstreik in Polen. Was, fragt man sich, haben beide Ereignisse gemeinsam, außer dass sie zeitlich fast parallel erfolgen.
Viele offene Fragen
Einen Hinweis darauf liefert der dritte Strang, den der Schweizer Regisseur in seinen Film einbaut. Er handelt von Hoessli selbst. Zu jener Zeit lebte er als Journalist mit einem Forschungsstipendium in Warschau und lernte unter anderem den Schriftsteller Kapuściński persönlich kennen, dessen Aufzeichnungen über die Revolution im Iran knapp 40 Jahre später zum Ausgangspunkt für «Der nackte König» werden. Während Hoessli an dem Film arbeitet, findet er heraus, dass er damals vom polnischen Geheimdienst observiert wurde. Man wollte ihn sogar für eine Zusammenarbeit gewinnen, bestätigen einige Verantwortlichen die der Regisseur ebenfalls vor die Kamera holt.
Auf diese Weise entsteht ein faszinierender Filmessay, der bewusst offen gestaltet ist. Hoessli wirft gängige Erzählmuster über Bord und begibt sich auf die Suche nach Zusammenhängen. Er stellt Reflexionen an und wirft viele Fragen auf, ohne Antworten zu liefern. Die Zuschauer werden zum Nachdenken gezwungen und dazu verführt, Interpretationen zu entwickeln, worin Revolutionen begründet liegen könnten. Ist es die Unterdrückung eines die ganze Gesellschaft durchdringenden Polizeistaates, wie ihn sowohl der Schah als auch die Partei im realexistierenden Sozialismus etabliert hatten? Darauf deutet zumindest Hoesslis eigene Geschichte hin, in der er zum Objekt des Geheimdienstes wird.
Es sind Ansätze wie diese, mit denen man den Film zu verstehen versucht. Seine Stärke besteht aber gerade darin, dass er keine eindeutige Aussage enthält. Viele Fragen bleiben offen, setzen allerdings eine Denkbewegung in Gang, die nicht weniger Vergnügen bereitet als eine spannend erzählte Handlung. Nebenbei lernt man nicht nur viel über die beiden geschichtlichen Ereignisse, sondern auch über das Handwerk von Geheimdiensten. «Der nackte König» ist ein informatives Zeitdokument, eine interessante Auseinandersetzung mit den wesentlichen Charakterzügen des Menschen, mit seinen Ängsten, Hoffnungen und Enttäuschungen, aber auch mit seinen Machtgelüsten und seinem Drang nach Herrschaft.
– Von Andreas Hoessli, Produktionsland: Schweiz / Polen, Deutschland, Anbieter: W-Film