Die sogenannten Montagsspaziergänge bekommen von Woche zu Woche mehr Zulauf. Wie groß die Euphorie ist, lässt sich an der steigenden Zahl der Lieder erkennen, die diese Art des Protests in Hymnenform thematisieren. Nach Alex Olivaris «Wir laufen für die Freiheit» und «Spazieren geh’n» des Duos Nico & Chris ist gerade ein weiterer Song erschienen: „Komm gib mir deine Hand / Und hab doch keine Angst“, heißt es im Refrain. „Wir halten fest zusammen / Auf dem Weg zum Neuanfang / Wir gehen für unser Land / Ist der Weg noch so lang / Nichts was uns halten kann / Bei unserem Spaziergang.“ Diese Zeilen singen zwei Künstler, die sich in der Protestbewegung auf jeweils eigene Art verdient gemacht haben: Giovanna Winterfeldt und SchwrzVyce.
Während der Rapper aus Hessen seit knapp zwei Jahren einen kritischen Song nach dem anderen vorlegt, nahm die Berliner Synchronsprecherin und Drehbuchautorin an der Aktion #allesaufdentisch teil und organisiert seit mehreren Wochen in der Hauptstadt die Demonstration «Friedlich zusammen» mit. Nun haben die beiden einen gemeinsamen Track produziert. «Spaziergang» präsentiert sich als eine Ballade mit weichen Tönen und einfühlenden Lyrics. Er wirkt heiter wie sanftmütig, enthält eine Prise Kritik und ist getragen von einer Grundstimmung, die auf Verbindlichkeit beruht: „Hey Du, zieh nicht so ein Gesicht / Wir gehen heut spazieren, sag mir kommst du mit“, singt Giovanna Winterfeldt in ihrem Part. „Überall in der Bundesrepublik / Schritt für Schritt holen wir unser Land zurück / Hey du, ja, lieber Herr Polizist / Ich weiß, du tust auch nur deine Pflicht / Doch heut tu bitte, was richtig ist / Schließ dich an, deine Bürger brauchen dich.“
Die 30-jährige Synchronsprecherin und Drehbuchautorin sei schon immer mit dem Herzen bei der Musik gewesen, sagt sie. Winterfeldt nahm bereits in den frühen Jahren Gesangsunterricht und kooperierte jahrelang mit mehreren Künstlern, unter anderem mit Ann Sophie, die sie beim Eurovision Song Contest 2015 als Backup-Sängerin unterstützte. Kurz vor Corona stand sie mit Simonne Jones im Studio. Zwischenzeitlich entstanden auch eigene Songs, die unter anderem auf Spotify zu finden sind. Allerdings habe sie inhaltlich immer etwas vermisst, beschreibt die Berlinerin ihre musikalische Arbeit. „Es fehlte die Mission, eine gewisse Grundbotschaft.“ Mit den gesellschaftlichen Umwälzungen in Folge der Corona-Krise hat sich das geändert. Sie gehe jetzt ganz anders an die Musik heran, möchte das aussprechen, was sie bewegt und umtreibt.
Authentischer Realitätsauszug
Dieses neue beschwingte Gefühl war es auch, das den Weg zur Kooperation mit SchwrzVyce ebnete. Nachdem Winterfeldt in den sozialen Medien ihre Einlage des «Redemption Songs» von Bob Marley geteilt hatte, kommentierte der hessische Rapper den Clip mit einem Lob. „Den nächsten machen wir zusammen“, schrieb sie als Antwort darauf. Und dann ging alles sehr schnell. In dem Musikvideo zum Song laufen die beiden die Spree entlang, begleitet von einer kleinen Masse an fröhlichen Menschen, die einen Montagsspaziergang simulieren. Die Bilder sollen einen authentischen Eindruck davon vermitteln, wie die Protestbewegung wirklich aussieht – bunt, divers, offen. Anders als das medienwirksame Framing suggeriere, so Winterfeldt, liefen bei den Spaziergängen nicht «Rechtsextreme», sondern friedliche Bürger aus den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten.
Der Song und das dazugehörige Musikvideo sollen die Realität möglichst genau einfangen und dadurch Berührungspunkte schaffen, damit Menschen außerhalb der Protestbewegung ihre Scheu ablegen, sich den Spaziergängen anzuschließen. „Wir wollen die Leute ermutigen weiterzumachen, aber auch neue Teilnehmer gewinnen, sagt SchwrzVyce. „Hey du, sag wann kommst du endlich raus? / Steh auf und mach doch mal die Glotze aus“, singt er in seinem Part. „Oh wow, du glaubst noch der Tagesschau? / Dann glaubst du wohl auch (noch) an den Nikolaus! / Wir stehen für Frieden und Gerechtigkeit / Für uns sind alle diese Menschen gleich / So steht’s im Grundgesetz Artikel 3 / Komm los, ab heute bist du mit dabei.“
Identitätsflächen auflösen
Der Rapper bewertet die allgemeine Stimmung im Land sehr positiv. Dass sich so viele Menschen bundesweit dezentral organisieren und für Demokratie und Freiheit auf die Straßen gehen, berührt ihn sehr. Große Erwartungen knüpft er an die Spaziergänge jedoch nicht – jedenfalls in politischer Hinsicht. Für ihn tragen sie eher dazu bei, dass die Bürger sich dadurch wieder aktivieren und den Wert der eigenen Freiheit zu schätzen lernen: „Das ist eine schöne, gesunde und menschliche Form, dem Unmut oder der Hoffnung Ausdruck zu verleihen.“ So ähnlich sieht es seine Gesangspartnerin. Sie findet es ebenfalls sehr faszinierend, was da gerade passiert. Auch wenn die Spaziergänge keine politische Kursänderung bewirken könnten, so hätten sie doch eine verbindende Kraft, sagt Winterfeldt. Da werde Liebe sichtbar, die sie in dieser Form noch nie in der Gesellschaft erlebt habe. „Es kommen Menschen zusammen, die sich früher niemals begegnet wären.“
Für die Berliner Künstlerin könnten die Spaziergänge zu einem Neuanfang beitragen, zu einem gesellschaftlichen Zustand, in dem sich Identitätsflächen auflösen, in dem Links-rechts-Schemata überwunden werden, in dem die Menschen sich wieder als Menschen sehen. „Es wird die Zeit der Freiheit sein“, umschreibt SchwrzVyce den Neuanfang, von dem im Song ganz explizit die Rede ist. „Wir müssen ein neues Bewusstsein ausbilden, wie wir miteinander leben wollen, wie wir mit der Politik interagieren. Und diesen Weg gehen wir unaufhaltsam.“ Der gemeinsame Song soll ihn ein Stück weit leichter machen. Er soll Mut machen, die Energie steigern und Brücken bauen.