«Doppelmoral» – Der Titel des im Westend Verlag erschienenen Essays von Kai Ambos eignet sich wie kein anderer Begriff, um den Zeitgeist vermeintlich liberaler Demokratien zu beschreiben. Obwohl Doppelmoral dort so gut wie in jedem Gesellschaftsbereich zum Vorschein kommt, bezieht sich der Professor und Jurist ausschließlich auf den Ukraine-Krieg. Der Westen, so seine These, sei in den eigenen Aussagen widersprüchlich und verstoße selber gegen die regelbasierte Völkerrechtsordnung, die er nach Russlands Angriff zu verteidigen vorgibt.
Die Ukraine als Kriegsort spielt in Ambos’ Schrift eine eher untergeordnete Rolle. Vielmehr richtet sich der Blick auf die hiesigen Institutionen und deren Taten. Die USA, die EU und die NATO werden darin damit konfrontiert, wie sie in den letzten Jahren mit dem Völkerrecht umgegangen sind. Das Ergebnis fällt nicht zu ihren Gunsten aus, was nicht sonderlich überrascht, wenn man Informationen zur Geopolitik nicht ausschließlich aus den Mainstream-Medien bezieht. Deren Narrative erweisen sich nicht selten als verzerrend, wie der Jura-Professor gleich im ersten Kapitel beweist. Dort geht es um die vermeintliche globale Unterstützung, die die westliche Reaktion auf den russischen Angriffskrieg erfährt. Ambos widerlegt diese Behauptung, indem er mithilfe von Quellen zeigt, dass gerade Länder des Globalen Südens eher passiv bleiben, selbst jene, die der UN-Resolution «Uniting für Peace» zugestimmt haben.
Am Beispiel der Türkei
Viele dieser Staaten weigerten sich sogar, die westlichen Sanktionen mitzutragen. Ein gutes Beispiel sei die Türkei, schreibt der Autor, „die zwar zu Beginn des Konflikts Drohnen an die Ukraine geliefert hat, sich aber im Übrigen, obwohl sie NATO-Mitglied ist, den westlichen Sanktionen widersetzt und sich stattdessen als Vermittler geriert, wie das Getreideexportabkommen vom Juli 2022 gezeigt hat.“ Die Unterstützung, fasst Ambos zusammen, beschränke sich auf 45 Länder, wenn man über die bloße Zustimmung zur Resolution hinausgehe – von insgesamt 193 UN-Mitgliedstaaten. Solche Details gehören in seinem Buch zu den interessantesten, weil sie hierzulande nicht weitverbreitet sind. Als etwas bekannter erweist sich hingegen der widersprüchliche Umgang des Westens mit dem Völker(straf)recht, auf den Ambos in der Folge seines Essays eingeht.
Erwähnt werden dabei der Irak- und Jugoslawien-Krieg, ferner die Menschenrechtsverletzungen der NATO-Streitkräfte in Afghanistan und im Kontext des „Kriegs gegen den Terror“ nach dem 11. September 2001. Kritische Passagen finden sich auch zum internationalen Strafgerichtshof, der laut Ambos russische und ukrainische Kriegsverbrechen mit jeweils unterschiedlichem Engagement verfolgt. „Fest steht jedenfalls“, lautet sein vernichtendes Urteil: „Dieselben Kolonialmächte haben – seit dem Zweiten Weltkrieg allerdings unter der Führung der (selbst einmal kolonisierten) USA – die hegemoniale Völkerrechtsordnung weitgehend zu ihren Gunsten bis zum postkolonialen Ende der unipolaren Weltordnung eingesetzt, unter anderem um die Fortsetzung direkter oder indirekter Interventionen in den (früheren) Kolonien zu rechtfertigen.“
Er habe den Essay in seiner akademischen Funktion geschrieben, schreibt der Autor in der Einleitung. Tatsächlich lesen sich viele Seiten wie sprödes Juristendeutsch, das mit vielen Substantiven und etwas umständlichen Formulierungen wissenschaftliches Flair versprüht. Der Titel des Buches lässt das zunächst nicht vermuten und weckt große Erwartungen. Inhaltlich werden sie nur teilweise erfüllt, was angesichts der 53 Seiten aber auch in der Natur der Sache liegt. Dennoch enthält Ambos’ Buch wichtige Informationen, die dazu verhelfen, den gegenwärtigen Konflikt besser zu verstehen und angemessen zu beurteilen. Wer am Diskurs teilnehmen möchte und weitere Argumente benötigt, wird in «Doppelmoral» sicherlich fündig.