Ende der 1970er Jahre sorgte in England eine neue Stilrichtung der Rockmusik für Aufsehen, die sich durch einen rauen, übersteuerten Sound und vehemente Gesellschaftskritik auszeichnete. Der Punk-Rock, so seine Bezeichnung, war eine rebellische Musik mit Hang zur Provokation. Bands wie Sex Pistols, The Clash oder Generation X lehnten in ihren Texten nicht nur gesellschaftliche Regeln ab, sondern sangen konfrontativ gegen das Establishment an. In diese energische wie konfliktreiche Welt entführt der 2016 erschienene Film «London Town», ein Coming-of-Age-Streifen, der sich nicht nur mit prägenden Momenten des Heranwachsens auseinandersetzt, sondern auch an eine aufmüpfige Subkultur erinnert.
Als Protagonist fungiert der 14-jährige Shay Baker (Daniel Huttlestone). Was ihm am Anfang des Films fehlt, ist Mut und das nötige Selbstbewusstsein, um sich in der harten Welt der Arbeiterklasse durchzusetzen. Die Lebensbedingungen könnten wahrlich besser sein. Shay fristet ein Dasein am Existenzminimum, obwohl sein Vater zwei Jobs nachgeht. Während er tagsüber einen Klavierladen betreibt und abends Taxi fährt, kümmert sich der 14-jährige Teenager um Haushalt und seine jüngere Schwester. Ihre Mutter hat die Familie im Stich gelassen, um in London eine Karriere als Sängerin anzustreben. Der Alltag ist so trist wie die grauen, maroden Viertel des kleinen Provinzstädtchen Wanstead, wo Shay mit Zukunftsängsten aufwächst. Doch dann lernt er die gleichaltrige Vivian (Nell Williams) kennen, die ihn in die Musik des Punk-Rock hineinzieht.
Einfluss des The Clash-Sängers
Die neue Stilrichtung liefert ihm die nötigen Impulse für ein Leben in Selbstbestimmung. Der Teenager lernt es, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Er stellt sich der Auseinandersetzung mit seiner flüchtigen Mutter, wandelt den väterlichen Klavierladen in einen Rock-Shop um und gewinnt das Herz Vivians. Einen maßgeblichen Beitrag zu seiner Entwicklung leistet Joe Strummer, der Sänger von The Clash, auf den Shay zufällig trifft. In einer Schlüsselszene, die den jugendlichen Protagonisten gleichsam elektrisiert, wird der Punk-Rock-Star in einem Interview gefragt, ob er zu einer Art Revolution aufrufe. „Zu einer musikalischen auf jeden Fall“, lautet seine Antwort. Da die Regierung den Menschen nicht helfe, müssten die Menschen es selbst in die Hand nehmen. „Wir haben eine Verpflichtung, The Clash hat eine“, sagt Joe Strummer. „Wir müssen den Leuten sagen, sie sollen aufwachen. Wacht verdammt nochmal auf, ihr Menschen.“
Im Jahr 2020 sind diese Aussagen aktueller denn je. Doch wo befinden sich heute die wilden, unangepassten Punk-Rocker, die in den späten 1970er-Jahren sich gegen das Establishment stellten und das Rebellentum kultivierten? Von diesem Geist ist nichts mehr übrig geblieben. Anstatt die Mächtigen für ihre unmenschliche und autoritäre Politik zu kritisieren, lassen sie sich von ihr nicht nur einlullen, sondern sogar vereinnahmen. Sie nehmen an Regierungskampagnen teil, spinnen das offizielle Narrativ weiter und übernehmen aus den Medien die umgedeuteten Kampfbegriffe, mit denen Maßnahmenkritiker pauschal in die rechte Ecke gestellt werden.
Kampf gegen Fata Morgana
Die Allergie gegenüber fremdenfeindlichen Gruppen ist ein großes Wesensmerkmal des Punk-Rock. Sie bildet gewissermaßen die DNA, wie «London Town» andeutet. In dem Film geraten die Musiker und deren Anhänger regelmäßig mit Skinheads aneinander, und auch Shay erlebt in diesen körperlichen Auseinandersetzungen seine Initiation. Die in Bildern ausgedrückte Konfrontation ist ein Grundmuster, das die Punk-Musik bis heute prägt. Eine Orientierung an ihm findet immer noch statt, allerdings nicht so reflektiert, wie eigentlich zu erwarten wäre.
Von den Skinheads-Aufläufen der damaligen Zeit sind die gegenwärtigen Demonstrationen gegen die Corona-Politik meilenweit entfernt. Obwohl an ihnen zum allergrößten Teil die bürgerliche Mitte teilnimmt, sehen die Punk-Rocker und ihre Anhänger nichts anderes als «Rechtsradikale», eine Fata Morgana, auf die sie ihre Ängste projizieren. Dadurch werden sie zu dem, was sie ursprünglich nie werden wollten: willfährige Helfer des Establishments. Sprachen sich die einschlägigen Punk-Bands jener Zeit noch entschieden gegen jegliche Formen des Mainstreams aus, schwimmen die heutigen Vertreter fleißig mit – duckmäuserisch und rückgratlos. In diesem Sinne hält «London Town» ihnen den Spiegel vor.