In den letzten Jahren wurden für größere Teile der Gesellschaft Tendenzen sichtbar, die gegenwärtig unter dem Begriff „Postdemokratie“ zusammengefasst sind. Der mittlerweile verstorbene Soziologe Charles Wright Mills sah sie schon in den 1950er Jahren und hielt seine Beobachtungen in dem Buch «Die Machtelite» fest. Bis heute gilt es als Standardwerk der politischen Soziologie, in dem das Fundament für eine fundierte Machtstrukturforschung gelegt wurde. Was seit Jahren unter dem Rubrum «militärisch-industrieller Komplex» herumschwirrt, zeichnete Mills schon damals nach, allerdings ohne diesen Begriff zu gebrauchen. Aber er sah, welche unheilvolle Allianz das Militär, die Großkonzerne und Teile der Politik hervorbrachten. Wie der Soziologe deren Anfänge wahrnahm, lässt sich nun in deutscher Übersetzung nachlesen.
«Die Machtelite», erschienen im Westend Verlag, enthält nicht nur Mills’ Studie, sondern auch einen reichhaltigen Einleitungsteil der drei Herausgeber Björn Wendt, Michael Walter und Marcus Klöckner, die den Ausnahmewissenschaftler einer breiteren Leserschaft vorstellen. Neben einem biografischen Abriss und einer Kurzskizze seines Oeuvres legen die drei Autoren dar, was Mills heute so aktuell macht. Der Soziologe sprach schon in der Hälfte des 20. Jahrhunderts von einer formalen Demokratie, in der allzu häufig zu beobachten ist, dass Repräsentanten mächtiger Interessengruppen den Ton angeben, obwohl sie für eine Minderheit sprechen. Doch die ist weit aktiver als die Mehrheit der Bürger und weitaus dominanter, wenn es darum geht, das politische System für die eigenen Ziele einzuspannen.
Denk-, Handlungs- und Gefühlsschemata der Machtelite
Wer in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg den größten Einfluss ausübt und die Elite bildet, sind nach Mills’ jene drei Gruppen, obwohl die Superreichen ihre Sperrspitze bilden. Der Soziologe grenzt sie zunächst von den früheren Unternehmern ab, die im ausgehenden 19. Jahrhundert an Geld kamen. Die neue Wirtschafts- und Finanzelite habe einen anderen Lebensstil, trete anders auf und entwickle andere Werte. Wie diese Klasse analysiert Mills nach dem gleichen Muster auch die anderen zwei: das Militär und die Politikerkaste. Er stellt Differenzierungen an, beschreibt die Bräuche und Gewohnheiten und bringt das zum Vorschein, was der französische Soziologe Pierre Bourdieu später Habitus nennen wird, einen internalisierten und inkorporierten Komplex aus Denk-, Handlungs- und Gefühlsschemata. Auf diese Weise werden die Leser in die Lebenswelt der Militär-, Politik- und Wirtschaftselite eingeführt, sodass ihre Sicht auf die Welt deutlich wird.
Diese drei Gruppen, so Mills’ These, vereinigen sich schließlich zu einem historisch neuartigen Netzwerk. In ihm habe sich eine Machtelite formiert, die sich aufgrund ihrer Stellung über alle anderen sozialen Gruppen erhebt und den formal demokratischen Prozess auf vielfältige Weise untergräbt. Dabei werden „die Entscheidungen der einen Führungsspitze“, schreibt Mills, „von den Vertretern der beiden anderen ständig überprüft. Eine immer engere Verflechtung der wirtschaftlichen, der politischen und der militärischen Sphäre ist die Folge.“ Die Machtelite sei immer dann im Spiel, so seine analytische Schlussfolgerung, wenn Entscheidungen „von zumindest nationaler, wenn nicht internationaler Tragweite“ gefällt werden.
Ein selbständiger Apparat
Dieser Begriff dürfte aus der Corona-Zeit gut bekannt sein und in gewisser Weise viele Kritiker bestätigen, die hinter den weltweiten Vorgängen die Machtelite vermuten. Allerdings betonte Mills schon damals, dass der Einfluss nicht von einzelnen Mitgliedern ausgehe, sondern dass diese vielmehr einem selbstregulierenden Apparat untergeordnet seien. Dieser funktioniere „von alleine“, sodass „die Befehlshaber in ihren Entscheidungen gar nicht frei sind, sondern von Notwendigkeiten geleitet werden, da sie in der institutionell geprägten Rolle an dem Platz, den die Gesellschaftsstruktur ihrer Institution zuweist, nicht anders handeln können“.
Für einen wissenschaftlich orientierten Soziologen schreibt Mills sehr verständlich, weniger abstrakt und in einem Stil, der eher journalistisch zu charakterisieren ist. Allerdings fallen die Ausführungen bisweilen langatmig aus, manchmal zu ausführlich, ohne eine wirkliche Pointe zu enthalten. Seine Analyse hätte durchaus straffer dargelegt werden können, vor allem aus der heutigen Perspektive. Vieles, was Mills in diesem Werk ausbuchstabiert, gilt mittlerweile als Allgemeinwissen – zumindest in den kritischen Kreisen. Dennoch lohnt sich die Lektüre, weil sie zu den Wurzeln der Machtkritik führt und veranschaulicht, dass die alles andere als demokratischen Verhältnisse in den vermeintlich liberalen Gesellschaften keineswegs Phänomene der letzten Jahre darstellen. Sie waren bereits im frühen 20. Jahrhundert sichtbar. Indem Mills sie beschrieb und systematisch in einen Zusammenhang brachte, leistete er eine wichtige Vorarbeit, auf der heute immer mehr kritische Geister aufbauen.