Die Corona-Maßnahmen haben die Kulturbranche hart getroffen. Besonders betroffen sind Kreative, die auf sogenannten Kleinkunstbühnen spielen. Seit dem Frühjahr dürfen sie wieder uneingeschränkt auftreten. Ob das im Herbst und Winter so bleibt, wird sich zeigen. Einer, der darauf hofft, ist der Berliner Boris Steinberg. Er arbeitet seit 30 Jahren als Chansonsänger und gehört jener Zunft an, die einst als die „Neue Berliner Chansonszene“ bezeichnet wurde. Er hat zahlreiche CDs veröffentlicht, war zehn Jahre lang Mitbegründer und Veranstalter des Chansonfests Berlin und sieben Jahre lang Gastgeber seines eigenen Salon-Chanson an der Berliner Volksbühne (Grüner Salon). Am 10. November tritt Steinberg in dem Berliner Lokal Al Hamra auf. Unterstützt wird er von Alexander Klein (Piano-Kabarett), Julia Schwebke (Chanson) und Heiko Schendel (Wortakrobat).
Boris, seit geraumer Zeit veranstaltest du einen Salon mit dem schillernden Titel «ChanGsonG ohne Gs». Wie sieht so ein Abend normalerweise aus?
Der «SalonG ChanGsonG ohne Gs» ist die Fortsetzung meiner Salon-Chanson-Shows, zu denen ich über sieben Jahre hinweg bis 2017 in den Grünen Salon der Volksbühne geladen habe. Ich als Gastgeber führe durch den Abend und präsentiere stets drei bis vier Gäste aus dem Bereich Chanson und Kabarett. Aber es handelt sich nicht nur um eine Wiederaufnahme, nein: Den Zeitgeist kann ich nicht ignorieren, wie man ja auch dem Titel des Abends entnehmen kann.
Die häufige Erwähnung des Buchstabens G spielt auf die G-Regeln an, die im letzten Herbst und Winter die Kulturbranche ein weiteres Mal lahmlegten. Welche Erfahrungen hast du mit der allumfassenden Impfagenda gemacht?
Diese G-Regeln haben, wie wir nun sehen können, letztlich das kulturelle Leben in einen Hickhack manövriert, von dem sich noch immer viele Bühnen, Veranstalter und Kollegen erholen müssen. Einige blieben bereits auf der Strecke. Die Kultur wurde lahmgelegt, und einem potenziellen Publikum, weil ungeimpft, wurde der Zutritt zu kulturellen Veranstaltungen verwehrt – und noch weit darüber hinaus. Eine Unglaublichkeit diese unsäglichen G-Regeln. Sie führten auch zu Streitigkeiten innerhalb eines Ensembles, in dem ich 2020 mitwirkte. Fatale Erlebnisse, aber auf der anderen Seite auch sehr klärend, ein wahrhaftiger Blick hinter die Fassaden.
Hat sich deine künstlerische Arbeit seit der Corona-Politik verändert?
Ich musste mich neu sortieren, denn einfach so weiter machen wie bisher, stand für mich außer Frage. Doch wie und was und wann und wo? Es begann eine Intensive Phase der Neuausrichtung. Glücklicherweise sah ich in jenen Tagen ein Interview von Nina Simone, in dem sie sinngemäß sagt: Das Künstlersein birgt eine Verpflichtung in sich, den Zeitgeist aufzugreifen und diesen zu verarbeiten. Und es ist völlig egal, welcher Kunstform man angehört. Diese Haltung war zwar stets die meine, doch ich hatte durch den Wirrwarr dieser Zeit meinen roten Faden irgendwie verloren. Und so kam ich langsam zurück auf meine Spur. Es entstanden einige neue Texte, und daraus wurden Chansons. Auch beim Herumkramen in meiner alten Chansontüte fanden sich wundervolle ältere Chansons, deren textlicher Inhalt nun genau wieder in den Zeitgeist passt. Mein neues Repertoire wurde rund – und voilà: ChanGsonGs ohne Gs.
Die Corona-Politik hat nicht nur die Gesellschaft gespalten, sondern auch die Kulturbranche. Welche Tendenzen nimmst du dort wahr?
Tatsächlich macht die Spaltung auch innerhalb der Kulturszene keinen Halt. Und das ist bis jetzt so geblieben. Ich sehe zwei Lager: Die eine Seite macht weiter wie bisher – Unterhaltung der alten Zeit, will ich es mal nennen. Denn ein Teil des Publikums will einfach nur lachen, den Wahnsinn und die Ängste des Alltags durch einen leichten Abend für ein paar Stunden vergessen. Die andere Seite bietet Kulturelles im Zeitgeist dieser Tage, eine Unterhaltung, die nicht durchweg Ablenkung bedeutet, sondern auch Auseinandersetzung mit den Themen dieser Zeit. In meinem Genre geht es dabei ganz konkret um das Wort, die Poesie, Berührung durch Emotionen, die durchaus auch melancholisch sind. Eine Renaissance des Chansons, wenn ich denn so reimen will.
Wenn man über die heutige Kultur-Szene spricht, kommt man um das Thema Zensur nicht herum. Hast du das Gefühl, dass deine Kollegen mittlerweile eine größere Schere im Kopf haben? Oder bemerkst du sie gar in dir selbst?
Die Veränderung besteht darin, dass es nun noch wichtiger geworden ist, jede Moderation, jeden Witz, jede Textzeile genauestens zu überdenken. Denn ein Witz von gestern ist womöglich heute schon eine Beleidigung. Schlecht Recherchiertes, eine unpassende Bezeichnung oder eine bisher unbedeutende Formulierung, die nun aber als Beleidigung oder als nicht mehr zeitgemäß empfunden wird, kann übelsten Shitstorm zur Folge haben oder eine Absage des Konzertes. Unfassbar das alles, doch Realität.
Würdest du sagen, dass die Kunst zunehmend indoktriniert wird? Oder empfindest du sie weiterhin als autonom?
Aktuell sehe ich insbesondere im Genre des politischen Kabaretts viel Mutiges und Kritisches – und dies sogar immer mehr auf allen Kanälen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.Dies liegt auch daran, dass innerhalb dieses Jahres viel mehr hinterfragt wird, als es noch im letzten Jahr passierte. Innerhalb der Gesellschaft wächst die Skepsis, völlig unabhängig davon, was die Medien uns zu den Themen dieser Zeit jeden Tag präsentieren. Und doch finden weiterhin kaum übergreifende Diskussionen statt. Dafür greift umso rasanter die Zensur, wenn es der gängigen Meinung widerspricht – und kann einer Karriere ganz schnell ein Ende bereiten. Doch ich bin davon überzeugt: Eine Zeit der Aufarbeitung, der Klärungen und der Entschuldigungen wird kommen. Alles Andere ist ja auch nicht zu akzeptieren.
Die Corona-Krise hat vor Augen geführt, dass es in Deutschland wieder einen starken Generationenkonflikt gibt. Sichtbar wird er unter anderem in der LGBTQ-Szene, in der du schon sehr lange verkehrst. Welche Veränderungen fallen dir dort auf?
Oh ja, dieses Thema kommt nun auch zu allem obendrauf. Ich bin noch am Auswerten all dessen. Doch ich kann schon folgendes bis hierhin für mich zusammenfassen: Der Generationswechsel, den wir in der LGBTQ-Bewegung sehen, finde ich erstmal im Ansatz gut. Im Übrigen betrifft dieses Thema auch die neuen Umweltaktivisten. Es geht in beiden Gruppen um einen großen Schritt nach außen, um die Erneuerung alter Sichtweisen und deren Gewohnheiten. Ich war bei CSDs stets zugegen und setze mich bis heute gegen Ausgrenzung und Stigmatisierung ein. Doch bisher verlief ja alles viel ruhiger, weniger aufgeheizt und extrem.
Ich sehe im Einklang zu den aktuellen intensiven Bewegungen, eine regelrecht geile PR-Maschinerie, eine Medienlandschaft, die alles sofort aufgreift, aufbauscht und in Szene setzt. Wenn einen aber der Mainstream gepackt hat, gilt es, klug und mit Bedacht zu agieren, auch mal die Bremse zu ziehen ist wichtig, sonst wird man womöglich nur das schwule Salz in einer Mainstreamsuppe, in der man sich dann womöglich auch ganz schnell verloren fühlt.
Titelbild: Boris Steinberg / Foto: Martin Becker