Kurzgeschichte
Julian konnte auf dem Display nichts erkennen. Er tippte und drückte, aber nichts geschah. Am liebsten hätte er das alte Ding gegen die Wand geworfen. Wie sollte er am Unterricht teilnehmen, wenn der Bildschirm voller Sprünge und schwarzer Flecken war! Unter seinem Hintern spürte er ein leichtes Kratzen der Couchfeder, das ihn aufbrausend aufstehen ließ. „Ich habe es satt. Ich will zurück in die Schule!“ Noch ehe er den Satz ausgesprochen hatte, hörte er das Klicken der Wohnungstür. Das musste sein Vater sein. Julian setzte sich sofort wieder hin und versuchte, mit seinem Hintern reibend eine einigermaßen gemütliche Position einzunehmen. Bloß nichts sagen, bloß nicht provozieren. „Ach herrje, muss ich dich jetzt wirklich jeden Tag hier ertragen“, sagte sein Vater mit grimmiger Stimme. „Wird wirklich Zeit, dass die Schulen wieder öffnen. Nicht für eine Minute hat man seine Ruhe.“
Julian hielt inne und versuchte ruhig zu bleiben. Er tat so, als konzentrierte er sich auf eine Aufgabe. Bloß nicht in seine Richtung schauen, einfach ignorieren. „Was machst du da schon wieder – am Smartphone daddeln? Hast du nicht dieses Homeschooling?“ Julian zitterte vor Ungewissheit, ob er darauf eingehen sollte oder nicht. „Homeschooling“, wiederholte sein Vater. „So ein Schwachsinn. Und immer diese englischen Ausdrücke, als gäbe es keine deutschen Wörter dafür. Schule zu Hause – das versteht doch jede Sau. Ist doch so, Julian. Julian, hörst du mich?“
„Ja, Papa“, sagte er schließlich, hielt daraufhin aber gleich wieder inne, um zu überlegen, was er am besten darauf antworten sollte. „Ist wirklich verständlicher als Homeschooling.“
„Das ist mein Sohn“, sagte sein Vater und klang schon etwas milder. „Wo ist deine Mutter?“
„Sie ist einkaufen gegangen“, antwortete Julian und bemerkte, wie seine Stimme flatterte. Sollte er vielleicht ins Schlafzimmer gehen. Eigentlich durfte er sich dort tagsüber nicht aufhalten, aber so wie sein Vater gerade aufgelegt war, könnte er es ausnahmsweise erlauben.
„Na hoffentlich bringt sie mir Bier mit. Ich könnte es gut gebrauchen, wo doch die Kneipen geschlossen sind. Sonst halte ich es hier nicht aus. Man muss doch zumindest eine Freude haben in diesen elenden Zeiten. Und wann kommt sie wieder?“
„Ich weiß es nicht“, antwortete Julian.
„Du weißt es nicht? Wie immer. Was weißt du eigentlich, hm?“
Julian befürchtete einen Wutausbruch wie gestern. Bloß nicht wieder dieses Geschrei. Heute würde er die Wohnung verlassen und weglaufen. Noch einmal könnte er dieses Gebrüll nicht ertragen. Er hoffte, dass seine Mutter jeden Moment kommen würde. Dann wäre er nicht die einzige Zielscheibe.
„Du sitzt hier schon seit zwei Wochen herum und machst nichts, außer auf dein dämliches Smartphone zu glotzen. Und tu nicht immer so, als würdest du am Unterricht teilnehmen. Wie kann man unter solchen Bedingungen überhaupt etwas lernen? Diese verblödeten Politiker, diese nichtsnutzigen Bürokraten.“ Er schlug mit der flachen Hand gegen die Wand. „Am liebsten würde ich ihnen alle Knochen brechen“, brüllte er und schlug noch einmal. Beim zweiten Schlag wollte Julian impulsiv aufstehen, wendete die Bewegung aber blitzschnell um. Er fühlte, wie sich sein ganzer Körper verspannte. Seine Finger krallten sich in das Couchpolster. Doch da hörte er von außen schon das erlösende Geräusch des Haustürschlüssels. „Hast du mir Bier mitgebracht“, schrie sein Vater. Dessen Glieder schienen vor Erwartung zu versteifen. „Na was ist, sag schon.“
„Ja, habe ich, Franz. Wie wäre es mal mit ‚hallo“, ’schön, dich zu sehen‘? Und überhaupt, kannst du zur Abwechslung auch mal lächeln oder ein nettes Wort von dir geben, zumindest eines? Geht das?“
„Wie soll man derzeit gute Laune haben, Lisbeth? Du kannst mir doch nicht sagen, dass dir dieser Lockdown nicht zusetzt. Mir ist stinklangweilig. Alles geschlossen, wirklich alles. Und das Schlimmste ist, dass niemand weiß, wie lange noch. Ich bin froh, dass wir zumindest Kurzarbeit haben. Ich hätte nie gedacht, dass ich meine dreckige Druckerei so vermissen würde.“
„Sei doch froh, dass du deine Familie mal ein bisschen öfter siehst. Aber anstatt die freie Zeit zu nutzen, schreist du nur herum. So kenne ich dich ja gar nicht, Franz. Was ist bloß in dich gefahren?“
„Wie soll ich ruhig bleiben, wenn alle um mich herum grundlos in Panik ausbrechen? Allen voran du! Wie kann man sich vor einem Virus nur so fürchten. Als wäre eine Seuche ausgebrochen?“
„Franz, du unterschätzt das. Die Experten im Fernsehen sagen, dass es ein neuartiges Virus ist. Verstehst du das? NEUARTIGES! Das heißt, unser Immunsystem ist nicht darauf vorbereitet.“
„Papperlapapp! Wenn du so redest, Lisbeth, bringst du mich noch mehr in Rage. Wie kann man einen solchen Humbug glauben? Wäre es so gefährlich, dieses so tödliche Virus, dann würden sich die Leichen draußen nur so stapeln. Gebrauch doch mal deinen Menschenverstand“, sagte er mit aufgerissenen Augen, und Julian dachte, dass er wieder mit Gegenständen werfen würde wie gestern. Der Parfümfleck im Korridor war immer noch zu sehen. „Ich gehe mal raus“, sagte Julian instinktiv und erhob sich.“
„Auf keinen Fall, mein Junge.“ Mit zwei schnellen Schritten drückte seine Mutter ihn an beiden Schultern wieder nach unten. „Du bleibst schön hier. Nicht dass du dich ansteckst und den Erreger dann an uns weitergibst. Wir müssen jetzt ganz vorsichtig sein, Julian! Verstehst du das?“ Er konnte diese Angst nicht nachvollziehen, nickte aber, um seine Mutter zu beschwichtigen.“
„Lass den Jungen nach draußen gehen“, schaltete sich sein Vater ein. „Ein bisschen frische Luft tut ihm gut. Und wir hätten hier auch ein bisschen Freiraum. In einer so kleinen Wohnung kann man sich doch nicht die ganze Zeit auf der Pelle sitzen. Geh ruhig raus, Julian. Und du gib mir mal das Bier. Ich muss mich beruhigen. So allmählich fühle ich mich wie Jack Nicholson in Shining.“
„Jetzt übertreibst du aber, Franz“
„Ich übertreibe? Ich – wirklich? Verkriecht sich vor einem Virus und wirft mir vor zu übertreiben. Und zieh endlich diese dämliche Maske ab.“
Julian überlegte, was er tun sollte. Diese Streitgespräche konnte er nicht weiter ertragen. Jeden Tag das gleiche Theater. Auch er wäre lieber in der Schule und hätte nicht gedacht, dass er jemals dieses Bedürfnis spüren würde. Seine Eltern waren ihm beide ein Graus, jeder auf seine Art. Er musste hier raus, so schnell es ging. „Ein bisschen Luft würde mir wirklich guttun“, sagte er schließlich und erhob sich zögernd.
„Setz dich wieder hin“, schrie ihn seine Mutter an.
„Hör nicht auf deine Mutter, Julian. Geh ruhig raus. Hörst du? Was sitzt du da wie ein verpeilter Eunuch. Steh auf und geh raus.“
„Auf keinen Fall“, übertönte ihn die Mutter. „Franz, das ist hochgefährlich. Monis Tochter war vor zwei Tagen auch nur kurz auf dem Spielplatz. Jetzt liegt sie flach und fiebert. Dabei war sie die einzige draußen, hat mir Moni erzählt. So schnell kann es gehen, Franz. Das ist die Wahrheit. Und jetzt muss das arme Mädchen im eigenen Haus in Quarantäne. Moni muss sich einiges einfallen lassen, um es zu versorgen. Dieses Schicksal will ich uns ersparen. Und wenn sich dann auch noch einer von uns beiden infiziert – wo sollen wir denn alle in Quarantäne bleiben bei bloß zwei Zimmern? Sei vernünftig, Franz!“
„Schon wieder diese Horrorszenarien. Aber ich bin es, der übertreibt. Schon klar. Du solltest mal ein bisschen weniger Fernsehen schauen.“
„Und du solltest ein bisschen mehr schauen. Dann würdest du das Virus auch nicht so verharmlosen.“
Nicht das schon wieder, dachte Julian. Als nächstes würde sein Vater der Mutter verbieten, ihm vorzuschreiben, was er tun sollte und was nicht. Und sie würde ihm vorwerfen, ein völlig verantwortungsloser Mensch zu sein. Hoffentlich würde sie heute nicht seine Männlichkeit anzweifeln. Hoffentlich hatte sie aus den vergangenen Tagen gelernt. Aber wahrscheinlich nicht. Sie war so impulsiv und aufbrausend wie er. Eigentlich konnten sich seine Eltern ruhig zerfleischen, nur nicht in seiner Gegenwart. Er musste hier irgendwie raus. „Du verblödete Hysterikerin“, hörte er, „du unsensibles Arschloch“. Sie schrien mittlerweile gleichzeitig aufeinander ein, ohne zu verstehen, was der jeweils andere sagte. Julian nutzte die Gelegenheit und schlich sich mit Katzenschritten in den Flur. Langsam zog er sich den rechten Sneaker an, so konzentriert, als hätte er eine praktische Prüfung im Kunst- und Werkunterricht zu bewältigen. Als er nach dem zweiten Schuh griff, spürte er eine Hand auf seiner Schulter. „Halt Freundchen, du bleibst schön hier!“ Die schrille Stimme seiner Mutter versetzte ihm so einen Schock, dass er erschrocken den Turnschuh wieder fallen ließ und sich mit seiner Hüfte heftig an der Kommode stieß. Der Schmerz kroch durch seine Glieder bis zum Kopf. Julian spürte, wie das Adrenalin seinen ganzen Körper vibrieren ließ. Das Geschrei seiner Eltern verwandelte sich in grelle Farben, die ihn an die Wand pressten. Von allen Seiten griffen Hände nach ihm; sie zogen und zerrten an seiner Kleidung, sie schubsten und drängten. Julian fühlte sich wie gefangen in einer Waschmaschinentrommel, die ihn durchschüttelte und wieder ausspuckte, ihn wieder aufsog und erneut klatschnass auf den Boden schleuderte. „Mach, dass du hier rauskommst“, hörte er. „Geh gefälligst weg von der Tür, weg von dort, sofort.“ Eine laute Ohrfeige erschallte, aber Julian wusste nicht, wer sie abbekommen hatte. Er spürte sowieso nichts mehr, außer den Drang, diesen furchtbaren Ort schnellstens zu verlassen, am besten für immer. Als müsste er mehrere Monster abwehren, schob er mit seinen fuchtelnden Händen alles zur Seite, was ihm entgegenkam. Irgendwann erreichten seine Finger die Türklinke und drückten sie kräftig nach unten. Es öffnete sich ein kleiner Spalt, in den Julian seinen unbeschuhten Fuß setzte. Er schlängelte sich nun wie eine Schlange durch einen Parcours, dabei mit allen Körperteilen arbeitend. Der Schmerz in seiner Hüfte verlieh ihm zusätzliche Kraft, sodass er sich weiter durch den Schlitz zwischen Tür und Rahmen schieben konnte. Eingeklemmt rang er nach Luft, hustete und schnaufte. Er fühlte sich wie von einer Zange zusammengepresst, deren metallene Zähne seine Eingeweide zerquetschten. Dann hörte er einen dumpfen Schlag, mit dem der Druck nachließ. Julian hörte noch einen Körper fallen, schaute aber nicht mehr zurück, sondern krabbelte zum Treppenhaus. Als er sich am Geländer hochzog, drang durch die Socke seines linken Fußes elektrisierende Kälte in seinen erhitzten Körper. Nichts wie weg hier, bloß weg. Er hatte von beiden genug. Er würde nie mehr zurückkehren, nie mehr. Lieber wollte er fortan auf der Straße leben.
Titelbild: Pixabay/Ulrike Mai