Einige Literaturklassiker nehmen zukünftige Entwicklungen vorweg. George Orwells «1984» gehört sicherlich dazu. Die darin geschilderten Mechanismen eines übermächtigen Überwachungsstaates treten seit der Corona-Krise auch hierzulande immer deutlicher zutage. Umso wichtiger erscheint es, sich in der aktuellen Situation zu vergegenwärtigen, wie entwürdigend, ja menschenverachtend die Machtstrukturen sind, die Orwell in seinem Roman beschreibt. So sieht es auch Aquamarin, eine Moderatorin des Independent-Radiosenders «Radio Emergency». Erst kürzlich hat sie «1984» in ihrer Sendung «Aquas Literarium» vorgelesen – von vorne bis hinten, ohne zu kürzen oder eine Zeile zu ändern. Das ist der Kern ihres Konzepts.
«Aquas Literarium» versteht sich als eine Literatursendung, die sich an geduldige Zuhörer wendet. An jedem Freitagabend liest die Moderatorin Romane, Erzählungen, Geschichten oder Märchen vor. Aquamarin deckt dabei ein breites Spektrum ab. Es können Werke aus dem 19. Jahrhundert sein oder zeitgenössische Publikationen, Science-Fiction-Romane oder Jugendbücher, griechische oder römische Sagen. Derzeit steht Rosemary Sutcliffs «Robin Hood» auf dem Programm, ein englischer Baladenzyklus, der sich mit den Abenteuern des heroischen Kämpfers für soziale Gerechtigkeit beschäftigt. Gelesen wird immer live, von 20.00 bis 23.00 Uhr, wobei die Moderatorin zwischendurch Pausen einlegt. In diesen Zeitabschnitten lässt sie Musik abspielen, die atmosphärisch zu dem vorgelesenen Werk passt. „Ich möchte, dass die Stimmung während dieser Pausen nicht verloren geht“, sagt Aquamarin. „Deswegen bereite ich mich gut auf die Sendung vor und suche nach den richtigen Songs – was nicht immer einfach ist.“
Zu «Radio Emergency» kam die Moderatorin vor knapp vier Jahren, nachdem sie zuvor selber Hörerin gewesen war. Der Sender gibt sich seit seiner Gründung im Dezember 2011 als ein Medium, das den Mainstream hinter sich lässt. Anfangs setzte er bewusst auf Punk oder Heavy Metal. Es war Musik, die sich nicht am Massengeschmack orientierte, sondern ganz spezielle Subkulturen ansprach. Später wurden in den Talkshows auch Themen aus der «Truther»-Szene aufgegriffen. Diese Sendungen begeisterten Aquamarin genauso wie der «Vintage Club» ihres heutigen Kollegen Frank Stoner, der in seinem Slot am Montagabend die Musik der 60er, 70er und 80er Jahre behandelt.
Kontakt über Live-Chat
Die Beziehung zwischen Sender und Community ist schon immer sehr eng gewesen. Einmal im Jahr trifft man sich in einem Camp, wo nicht nur ausgelassen geplaudert, sondern auch der Kontakt gefestigt wird. Der Austausch mit den Hörern findet sogar während der Sendungen im Live-Chat statt. So ist auch Aquamarin zu ihrer Sendung gekommen. Die virtuellen Gespräche führten zu privaten Begegnungen, bei denen einer der Moderatoren auf ihre wohlklingende Stimme aufmerksam wurde und fragte, ob sie nicht in einer eigenen Show vorlesen wolle. Aquamarin war sofort Feuer und Flamme. Sie sei schon immer vom Radio fasziniert gewesen, sagt die Moderatorin. „Man braucht nur eine Stimme, ansonsten ist man relativ frei.“ Da Aquamarin von klein auf Literatur liebt und Germanistik studiert hat, ging sie auf das Angebot gerne ein. Als Ende 2017 ein Sendeplatz frei wurde, konnte es endlich losgehen.
Bevor die Moderatorin in «Aquas Literarium» aus dem ausgewählten Werk zu lesen beginnt, führt sie die Hörer in das Stück ein. Sie bekommen nicht nur eine Zusammenfassung dessen, was bislang passiert ist, sondern auch Zusatzinformationen, die der Einordnung dienen. Aquamarin fungiert quasi als auktoriale Erzählerin. Sie kommentiert und kontextualisiert, sie beschreibt eigene Assoziationen und stellte Bezüge zum aktuellen Geschehen her. Ihre Sendung ist eine Art Gesamtkunstwerk, das aus Literatur, Musik und Aufklärung besteht. Wer die Sendung verpasst hat, kann sie in der Mixcloud nachhören. Wird aus dem Buch von Gegenwartsautoren vorgelesen, bemüht sich die Moderatorin, mit ihnen später ein Live-Interview zu führen. In solchen Fällen kommt es dann zu sogenannten Gesprächsabenden.
Kritik in unverblümter Sprache
Vor ungefähr einem Jahr war der Autor Matthias Töpfer zu Gast, der in seinem aktuellen Roman «Spinswitcher» eine dystopische Welt darstellt. Es handelt sich um eine „parallele Wirklichkeit“, heißt es im Klappentext, „die der unseren zum Verwechseln ähnlich ist“. Solche Werke nimmt Aquamarin gerne ins Programm auf. Wie Orwells «1984» hält auch der «Spinswitcher» der Gesellschaft den Spiegel vor. Die Moderatorin versteht ihre Sendung als Plattform, auf der Kritik unverblümt zur Sprache kommen kann, auch wenn sie nicht der öffentlichen Meinung entspricht. Für Political Correctness ist hier kein Platz. «Aquas Literarium» soll Themen aufgreifen, die sonst gerne verdrängt oder abgedrängt werden.
In der Sendung geht es aber auch besinnlich zu, besonders in der Zeit um den Jahreswechsel. Zwischen dem ersten Weihnachtstag am 25. Dezember und dem Fest der Erscheinung des Herren am 6. Januar, auch als Rauhnächte bekannt, liest die Moderatorin eher aus Werken vor, die ihre Hörer dazu veranlassen, in sich zu gehen. Bei der Auswahl orientiert sich Aquamarin gerne an der Jahreszeit, greift aber auch gerne zur Literatur, die ihrer Meinung nach mehr Aufmerksamkeit verdient hätte. „Ich möchte Werke, die keiner mehr kennt, wieder zum Leben erwecken“, sagt sie.
«Aquas Literarium» erfülle sie wie kein anderes Hobby. „Die Sendung bereitet mir sehr großen Spaß und hilft mir, selbst über persönliche Krisen hinwegzukommen.“ Das gilt auch für die Hörer. Die Moderatorin erreichen viele Zuschriften, in denen Fans mitteilen, dass sie sich die ganze Woche lang auf die Sendung freuen. Ihre Stimme habe auf sie eine „heilende“ Wirkung. Das beobachte sie sogar auf den besagten Camptreffen. Wenn die Moderatorin dort liest, packen einige Community-Mitglieder an Ort und Stelle ihre Schlafsäcke aus und lassen sich von Aquamarins Stimme in die Welt der Träume entführen.