In Deutschland herrscht schon seit mehreren Jahren eine politisch aufgeladene Stimmung. Inhalte spielen eine immer geringere Rolle. Entscheidungen und Kommentare richten sich nicht mehr danach, was gesagt wird, sondern wer es sagt. Eine unvoreingenommene Auseinandersetzung mit Themen findet so gut wie gar nicht mehr statt. Allein der Autorenname oder das Publikationsmedium reichen aus, um den Inhalt vorab zu disqualifizieren. Der Verleger Martin Sell möchte dem entgegenwirken. Im Februar dieses Jahres hat er eine Zeitschrift ins Leben gerufen, die den vorurteilsfreien Blick schulen soll.
Ihr Name ist bereits Programm. «Nachhall» versammelt mehrere Texte von Bloggern, Wissenschaftlern und klugen Köpfen, trennt dabei aber den Inhalt vom Sprecher – insofern, als die jeweiligen Autoren erst in der nächsten Ausgabe bekanntgegeben werden. Die Leser sollen sich zunächst mit den Argumenten auseinandersetzen, bevor sie erfahren, wer sie formuliert hat. Es ist ein politisch und finanziell unabhängiges Projekt, das nicht nur zu einem besseren Demokratieverständnis beitragen, sondern auch den Umgang mit Nachrichten kultivieren soll. Im Vordergrund steht der Aspekt der Nachhaltigkeit: An die Stelle des digitalen Switchens und Klickens soll die langsame, aber intensive Lektüre treten. Das Rezept heißt Slow-News.
Plattform für Minderheitenmeinungen
Der «Nachhall» erscheint als gedruckte Blattsammlung, die immer aus 32 Seiten hochwertigen Papiers besteht. „So können alle Leser ihr eigenes Werk schaffen“, sagt Sell. „Die Texte lassen sich beliebig abheften, in einer Reihenfolge, die jeder selbst festlegt.“ Zu lesen gibt es vier bis sechs Artikel, unter denen sich meistens einer befindet, der provokativ ausfällt. Sell sammelt sie aus den unterschiedlichsten Publikationsorganen und orientiert sich dabei an Inhalten, die in der Nachrichtenlandschaft zu kurz kommen. Der Verleger will mit seiner Zeitschrift vor allem den Minderheitenmeinungen eine Plattform bieten, weshalb es sich oft um Artikel aus den alternativen Medien handelt.
Doch das ist nur ein Grund für die Auswahl. Der andere liegt in der Zweitverwertung, mit der sich Leitmedien nur dann einverstanden zeigen, wenn viel Geld fließt. „Aufgrund des Urheberrechts ergeben sich hier meist Probleme“, so Sell. „Die alternativen Medien sind in dieser Hinsicht viel kulanter und stellen ihre Texte gerne kostenlos zur Verfügung.“ Anders als die Rückmeldungen der großen Häuser fielen ihre Antworten freundlicher aus. Das vereinfacht die Arbeit, weshalb der Verleger sich überwiegend auf das alternative Meinungsspektrum konzentriert, obwohl er eigentlich nichts dagegen hätte, auch kontroverse Beiträge aus dem Mainstream in das Heft aufzunehmen.
Gründung des massel Verlags
Der «Nachhall» ist allerdings nicht die einzige Publikation, der Martin Sell seine Aufmerksamkeit widmet. Vor knapp zwei Jahren gründete er in München den massel Verlag, der sich zunächst auf Kinderbücher fokussiert. Die Gründung fiel in eine ungünstige Zeit. Als der Verlag im Oktober 2019 seine Arbeit aufnahm, erschien kurze Zeit später Corona am Horizont – weit weg im fernen Osten. Doch das Thema kam immer näher und torpedierte Sells Pläne. Im März 2020 sollte die erste Veranstaltung stattfinden, auf der er seinen Verlag vorstellen wollte. Mit dem Lockdown machte ihm die Politik einen Strich durch die Rechnung. Die Buchmessen fielen aus – genauso wie andere Events, auf denen das interessierte Lesepublikum den massel Verlag hätte wahrnehmen können.
Seitdem habe er noch nicht sonderlich viel erreicht, sagt Sell wehmütig. Die Buchläden waren lange Zeit geschlossen, und der Staat bot ebenfalls keine Hilfe. „Es wurde zwar zum Beispiel das Konjunkturprogramm «Neustart Kultur» gestartet, mit dem der Bund Verlage mit 20 Millionen Euro unterstützt“, sagt der Verleger. „Aber das Geld kommt nur Häusern zugute, die in den letzten zwei Jahren mindestens zwei Bücher veröffentlicht haben.“ Diese Bedingungen konnte der massel Verlag nicht erfüllen, weshalb Sell in ein tiefes Loch fiel. Besonders schlimm war es im Winter letzten Jahres, als der zweite Lockdown beschlossen wurde. Wie so viele verbrachte Sell einen Großteil seiner Zeit auf Telegram oder vor dem Computer, um an verlässliche Informationen zu kommen.
Nach einer Weile stellte sich das Bedürfnis ein, von der Schnelllebigkeit auf Social Media wegzukommen und wieder mal längere Artikel auf Papier zu lesen. Sell wollte die Lektüre genießen, anstatt ständig den Telgram-Feed hoch und runter zu wischen. So ist die Idee zu «Nachhall» entstanden. „Wegen der ansteigenden Flut an neuen Social-Media-Beiträgen gehen interessante Artikel verloren“, erklärt der Verleger seine Entscheidung. „Ich wollte etwas haben, was man aufbewahren kann.“ Deswegen versteht er seine Zeitschrift als Zeitdokument, in dem wertvolle Inhalte konserviert bleiben. „Vielleicht kann man die einzelnen Blattsammlungen später den eigenen Enkeln überreichen, damit sie einen authentischen Eindruck von dem bekommen, was sich damals gesellschaftlich abspielte.“
Abonnement-Änderung
Bislang ist der «Nachhall» zwei Mal im Monat erschienen. Ab Oktober sollen sich die Modalitäten etwas ändern. Die Abonnenten erhalten nur noch eine Ausgabe pro Monat. Damit sie nicht so lange auf die Bekanntgabe der Autoren warten müssen, wird ein verschlossener Umschlag beigelegt, in dem sich deren Namen befindet. „So können die Leser selbst entscheiden, wann sie das Geheimnis lüften wollen“, erklärt Sell. Die Änderung geht auf den Wunsch vieler Abonnenten zurück. Sie finden das Projekt toll, schaffen es aber zeitlich nicht, monatlich zwei Ausgaben durchzulesen. Das ist durchaus im Sinne des Projekts: Die tiefgründige Lektüre soll den schnellen Nachrichtenkonsum ablösen.
Dem gleichen Prinzip folgt die Veröffentlichung der Kinderbücher. Sie enthalten viel Weisheit in harmlosen Kinderversen. Es sind Geschichten, die gegen den Strom schwimmen – leichtfüßig erzählt und schön illustriert. „Kinderbücher werden umso wichtiger, je stärker die Digitalisierung voranschreitet“, sagt Sell. Virtuelle Produkte bräuchten ein Gegengewicht, etwas, das man anfassen könne. „Bücher haben im Handel einen schlechten Stand, buntes und blinkendes Spielzeug, Filme und Computer Games verkaufen sich besser. Aber Bücher bleiben unendlich wichtig für die Entwicklung jedes Kindes.“ Bislang hat der massel Verlag drei Kinderbilderbücher veröffentlicht. Ein viertes befindet sich gerade in der Entstehung. Und es ist nicht unwahrscheinlich, dass in Zukunft auch Bücher für Erwachsene verlegt werden. Aufgrund der Corona-Politik startet das Münchner Publikationshaus erst jetzt richtig durch. Die Bedingungen werden immer besser.