18. November 2025

Wenn ein Buch über das Missverstehen von Songtexten selbst missversteht

Wie Gedichte enthalten Songtexte nicht selten Ellipsen und Lücken. Darin besteht gerade ihr Reiz, weil sie mehrere Möglichkeiten der Interpretation ermöglichen. Die Hörer müssen die Lücken selbst füllen, was gelegentlich dazu führt, dass so manch einer über das Ziel hinausschießt. Das passiert aber auch dann, wenn die Songzeilen klar und unmissverständlich formuliert sind. Manchmal will man sie einfach in die eigene Weltsicht pressen, sei es, weil so mancher Vers sich zu gut dafür eignet, sei es, weil man den Kontext sträflich vernachlässigt. Die Musikgeschichte ist voll von solchen Missverständnissen.

Der Journalist Michael Behrendt hat sie gesammelt, in einem Sachbuch, dessen Titel sich beinahe selbst wie die Lyrics eines Lieds anhört: «Verhört, verkannt, vereinnahmt». Bevor er zu den angekündigten 99-einhalb missverstandenen Songs kommt, erläutert er zunächst die zahlreichen Gründe für Fehlinterpretationen. Sie entstehen, heißt es in der Einleitung, „weil wir zu gern nur das verstehen, was wir verstehen wollen“. Das Phänomen dürfte allgemein bekannt sein, gerade in politisch aufgeladenen Krisenzeiten wie diesen: Es geht um „Projektionen persönlicher Sichtweisen auf einen Text und das Auslassen unliebsamer Aspekte, die unsere Sichtweise stören“.

Bisweilen sind die Gründe banaler: Man scheitert aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse oder an dem Hang zum selektiven Hören. Nicht selten sind aber die Interpreten selbst für Missverständnisse verantwortlich, weil sie in ihren Texten bewusst falsche Fährten legen, um die Hörer zu verwirren – und somit zu aktivieren. Zum Pop-Habitus gehört das heute genauso dazu wie die Selbstinszenierung. Behrendt exemplifiziert dies unter anderem am Beispiel von Falcos «Jeanny», das auf ein Missverständnis geradezu abzielt, um einen Mythos zu schaffen.

Dass falsche Fährten aber nicht nur in den Songs gelegt werden, sondern auch außerhalb, etwa in Interviews, veranschaulicht der Autor im Kapitel zu Bryan Adams «Summer of ’69». Der Musiker hatte seinerzeit die Öffentlichkeit mächtig verwirrt, als allgemein gerätselt wurde, worauf sich die Zahl bezieht – auf das Jahr oder die sexuelle Stellung.

In teilweise brillanten Textanalysen extrahiert Behrendt die Essenz solcher missverstandenen Songs und entkräftet alle Fehlinterpretationen, die sich um ein Stück ranken. Er tut es mal mittels Kontextualisierung, mal werkimmanent, gelegentlich aber auch durch eine ideologische Brille. Die Lektüre ist durchaus unterhaltsam, nicht zuletzt, weil der Musikjournalist hier und da eine ironische Formulierung einbaut. Doch gegen Ende geraten die Ausführungen selbst in eine Schieflage, vor allem dort, wo es um die politische Vereinnahmung von Songs geht.

Überhaupt nicht mehr witzig ist es, wenn Behrendt auf Marius Müller-Westernhagens «Freiheit» zu sprechen kommt. Da beweist er quasi performativ, dass auch er selbst gerne mal die Fakten verdreht – und die Zusammenhänge missversteht. Der Humbug, den er in diesem Kapitel fabriziert, muss in seiner ganzen Länge wiedergegeben werden: Für viele Menschen sei es ein Schock gewesen, „als «Freiheit» Anfang 2022 während der Pandemie plötzlich ausgerechnet auf Protestveranstaltungen von Coronaleugnern und Querdenkerbewegungen angespielt und angestimmt wurde. Kern des Protests war die unsinnige Behauptung, die Coronabeschränkungen der Bundesregierung würden die Bürgerinnen und Bürger ihrer Freiheit berauben, Impfskeptiker kriminalisieren und das Land in die Nähe einer Diktatur rücken.“

Abgesehen davon, dass der Autor immer noch die durchgenudelten, diffamierenden, vor allem aber pauschalisierenden Kampfbegriffe verwendet, lassen derlei Aussagen tief blicken: War es nicht gerade für freiberufliche Musiker ein Freiheitsverlust, nicht der eigenen Arbeit nachgehen zu dürfen? War die Schließung der Grenzen nicht ein Verstoß gegen das Grundrecht auf Freizügigkeit? Senioren mussten im Altersheim in Einsamkeit ausharren, weil ihre Liebsten sie nicht besuchen durften. Irgendwann wurden sogar Demonstrationen verboten, als immer mehr Menschen auf die Straßen gingen, um gegen die Einschränkungen zu protestieren. Was ist das, wenn nicht Freiheitsberaubung?

Ist die zitierte Passage selbst übervoll an „unsinnigen Behauptungen“, so schießt Behrendt mit der folgenden endgültig den Vogel ab: „Im Kampf gegen diese feindliche Übernahme seines Songs postete Westernhagen am 4. Februar 2022 ein Foto von seiner eigenen Coronaimpfung, unterschrieben nur mit einem Wort: «Freiheit». Damit unterstrich er die eigene freie Entscheidung für die Impfung und die große Chance, die individuelle Freiheit eines jeden Menschen durch den aktiven Schutz gegen das Coronavirus auch zukünftig zu sichern.“

Abgesehen davon, dass die Impfung – wie unter anderem aus den RKI-Protokollen hervorgeht – keinen wirklichen Schutz brachte, werden hier mal wieder die Tatsachen verdreht: Von einer „freien Entscheidung“ konnte zu dem Zeitpunkt keine Rede sein. Die Regierung übte indirekten Zwang aus, indem sie die Teilnahme am öffentlichen Leben an die Impfung knüpfte. Wer von seiner „individuellen Freiheit“ Gebrauch machte, sich nicht impfen zu lassen, wurde ausgegrenzt, durfte nicht ins Restaurant, nicht auf den Weihnachtsmarkt und nicht in manch eine Behörde. Für medizinische Berufe war die Impfung sogar verpflichtend, sodass die betroffenen Arbeitnehmer gar keine Möglichkeit hatten, von ihrer „individuellen Freiheit“ Gebrauch zu machen. Sie mussten spuren, um ihren Arbeitsplatz nicht zu verlieren.

Wenn, wie im Fall von Westernhagen, Freiheit ein Gut ist, dass man nur erhält, wenn man sich impfen lässt, ist das genau das Gegenteil von Freiheit. Schon allein wegen dieses einen Kapitels gehört Behrendts Buch in die Mülltonne. Wer so einen Blödsinn produziert, trägt zum allgemeinen Missverstehen bei!

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