Kurzgeschichte
Julia erschrak von dem gewaltigen Scheppern der Eingangstür und rannte in den Korridor, so instinktiv, als hätte sie auf dieses auffordernde Signal nur gewartet. Zwei Sanitäter schoben auf einer ratternden Fahrtrage eine ältere Frau hinein, mit blutroten Wattebäuschen in der Nase. Ihr Stöhnen übertönte das Klappern der Räder und löste eine Echolawine aus, die bis zu den hintersten Zimmern zu hören sein musste. Einer der Sanitäter sagte etwas, aber seine Worte kamen nicht gegen den Pegel an. Die FFP-2-Maske filterte sie wie matschigen Kaffeesatz. Julia hatte vergessen, sich selbst eine aufzusetzen, und holte schnell eine blaue Medizinmaske aus ihrer Kasacktasche heraus, bevor sie möglicherweise ermahnt werden würde. Der andere Sanitäter schielte schon streng. „Was ist passiert“, fragte sie noch im Laufen.
„Ein böser Sturz. Das Nasenbluten will einfach nicht aufhören. Es tropft und tropft wie Platzregen. Aber das hier könnte noch viel mehr Probleme bereiten.“ Seine zuvor strengen Augen wiesen jetzt ehrfurchtsvoll zum Knie, wo Julia auf der schwarzen Hose einen großen dunklen Fleck bemerkte. Die kaum sichtbare Umrandung weitete sich aus. In der Mitte versank der Stoff im Fleisch, als würde ihn die Haut einsaugen. „Wir waren so sehr damit beschäftigt, das Nasenbluten zu stoppen, dass wir uns um die Wunde gar nicht kümmern konnten. Es scheint übel zu sein.“
Julia überlegte, in welchem Zimmer noch Platz war. „Bringt sie in die 317“, wies sie die Sanitäter an. Dort lag die putzige alte Dame mit dem nussförmigen Gesicht. Sie war relativ pflegeleicht und konnte sich ohnehin nicht bewegen. Julia durfte nur nicht vergessen, den Kot-Beutel zu wechseln. Zumindest hätte sie es dann nicht weit zum Zimmer nebenan, wo dieser delirante Halbblinde lag, der ständig klingelte und dann immer wieder vergaß, was er eigentlich wollte.
Julia bereute es, eingesprungen zu sein. Es wäre so schön gewesen, morgen gemeinsam mit Max aufzustehen und am Nachmittag in den Zoo zu gehen. Wann hatte sie das letzte Mal einen ganzen Samstag nur mit ihm allein! Stattdessen diese Horrornacht! Wo waren bloß Melanie und Sergej, so allmählich wurde es Zeit! Die beiden Sanitäter fuhren die Schwerverletzte in rasendem Tempo ins Zimmer. Als Julia hinterhergekommen war, hievten sie die alte Dame von der Trage ins Bett. Der massige Körper bereitete ihnen Probleme; beide waren kurz davor, unter dem Gewicht zusammenzubrechen. Einer von ihnen stieß dabei so schwer gegen den Tisch der liegenden Nachbarin, dass der volle Medikamentenbecher herunterfiel. Die bunten Tabletten und Kapseln verteilten sich auf dem Boden wie Keime unter Schwarzlicht.
„Oh, das tut mir leid“, sagte er, ohne Julia anzusehen. An seinen hektischen Schritten erkannte sie, dass schon der nächste Einsatz wartete. „Viel Vergnügen“, hörte sie hinter einer der Masken, während beide die leere Fahrtrage durch die enge Tür bugsierten.
Die neue Patientin wimmerte unentwegt. Julia hatte das Gefühl, dass das Wehklagen von Sekunde zu Sekunde lauter wurde. In ihren Ohren sträubten sich die Haare, und sie überlegte, ob sie nicht irgendetwas hineinstopfen sollte, um dieses Gejaule zu dämpfen. Nun fing die Patientin auch noch an, sich zu wälzen. Mit heftigen Armwürfen schlug sie eines der Wattebäuschchen aus der Nase, nahm es dann in die Hand und warf das kleine dunkelrote Knäul ekelerfüllt weg wie eine Bananenschale. Das herausspritzende Blut glich ungestümem Sprudel einer frisch geöffneten Flasche. Die Flecken auf ihrer gelben Bluse vergrößerten sich, während auf dem Kissen malerisch neue Inseln entstanden. „Ui“, schrie die Bettnachbarin auf, verstummte aber sogleich und legte ihr ganzes Entsetzen in gleichmäßiges Kopfschütteln. Dann runzelte sie die Stirn, ihre vor den Mund geschobene Hand glitt nun abwärts zum Bauch. Julia wusste, dass sie bald den Kot-Beutel wechseln musste. Sie griff in ihre Kasacktasche und holte ein Taschentuch heraus, das sie der Patientin provisorisch vor die Nase hielt. „Halten Sie das Loch zu“, bat sie die alte Dame. Aber die reagierte nicht. Als Julia das Telefonläuten in der Hosentasche hörte, führte sie die Hand der Patientin zum Taschentuch, in der Hoffnung, dass diese dann selber auf die Idee kommen würde, was zu tun war. Auf dem kleinen Bildschirm las sie den Namen der Koordinatorin. „Hallo Silvia, halt dich bitte kurz, ich bin hier total im Stress.“
„Ja, Julia, ganz schnell. Sergej fällt leider aus. Er wurde positiv getestet und muss jetzt zwei Wochen in häuslicher Quarantäne bleiben.“
„Und was ist mit Melanie?“
„Ist sie immer noch nicht da? Ich habe sie nicht erreicht, aber ich versuche es gleich noch einmal.“
„In Ordnung“, sagte Julia und legte sofort wieder auf.
Als sie die Fingerabdrücke auf dem weißen Telefon sah, wurde ihr erst bewusst, dass ihre Handflächen blutverschmiert waren. Sie musste sie unbedingt waschen, wollte aber zuerst das Knie verarzten, damit sich die Patientin beruhigte. Deren Geschrei schlug wie ein Hammer rhythmisch auf die Schädeldecke ein, sodass Julia nicht mehr wusste, ob sie mit dem Kopf nach vorn und zurück wippte oder sich das bloß einbildete. Sie schnitt schnell die Hose auf und blickte in einen tiefen Riss, aus dem bläuliches Gemisch aus Eiter und Blut herausquoll. Der stechende Gestank verwandelte die Luft in ein explosives Gemisch. Für einen Moment spürte Julia das Ratatouille von vorhin hochkriechen. Sie holte aus dem Schrank weitere Wattebäusche und eine Binde, tupfte zunächst die stinkende Absonderung ab und zog aus der unteren Schublade ein kleines Fläschchen Desinfektionsmittel heraus. Als sie sich damit über die Wunde bückte, fiel vom Dekolleté ihres Kasacks eine dicke Baumwollfaser genau in den Riss und versank in deren dickflüssigen Tiefe. Sie griff nach der Pinzette und suchte nach dem gefährlichen Fremdkörper, vorsichtig und behutsam, damit das Lamento ja nicht in eine höhere Tonlage überging.
In dieser kontemplativen Versenkung fühlte es sich an, als bewegte sich ihr Körper von selbst, routiniert und mechanisch. Die Erfahrungen der letzten Jahre materialisierten sich zu abgestimmten Abläufen. Julia glaubte, einen einstudierten Tanz darzubieten. Jeder Tritt, jedes Bücken, jedes Fingerspreizen folgte geschmeidig aufeinander, präzise und dynamisch, bis schriller Alarm das Räderwerk fürsorglicher Handgriffe wie grobkörniger Sand abrupt zum Stillstand brachte. Der delirante Halbblinde vom Zimmer nebenan meldete sich wieder einmal zur Unzeit, so aufdringlich wie an den Tagen zuvor. Das in blinkendem Rot bettelnde Signal ihres tragbaren Geräts vermengte sich mit den Schmerzensschreien zu einer sägenden Diaphonie des Grauens, die alle Nerven zerfetzte. Julia ließ vor Schreck die Pinzette fallen und rannte sofort aus dem Zimmer, um dem penetranten Greis die Leviten zu lesen. Am liebsten hätte sie ihn sediert, damit er nicht mehr störte. Noch während sie sich über ihn ärgerte, fiel ihr ein, dass sie die Baumwollfaser noch gar nicht aus der Wunde herausgeholt hatte. Sie musste schleunigst zurückkehren, ihn nur schnell ruhigstellen und gleich wieder in die 317. Ihr durfte bloß nicht das Gleiche passieren wie vor zwei Wochen Arne. Der arme Kerl musste zusehen, wie ihm ein älterer Herr unter den Händen wegstarb, als die Station wieder so unterbesetzt war wie heute. Arne wusste selber nicht, welchen Fehler er begangen hatte. In dem Chaos kein Wunder. Vermutlich sah es genauso aus wie hier, überall verdrecktes Besteck, blutbeschmierte Wattebäusche, trockene Essensreste. Die multiresistenten Keime mussten eine Party feiern. Die Erinnerung an die Aufregung danach ließ Julia auch jetzt wieder frösteln. Arne drohte nun sogar eine Gefängnisstrafe, und selbst wenn der Richter gnädig sein würde, sahen die Zukunftsaussichten trotzdem düster aus. In die Klinik würde er wohl nie wieder zurückkehren dürfen, und dann noch das psychische Trauma, die Gewissensbisse, die quälenden Erinnerungen. Ihr durfte das nicht passieren, auf keinen Fall. Sie würde ebenfalls die Arbeit verlieren, möglicherweise sogar das Sorgerecht für Max, ganz sicher aber, wenn sie ins Gefängnis müsste, wegen Fahrlässigkeit, so wie Arne. Großer Gott, sie wollte gar nicht daran denken.
„Herr Blum, was ist denn jetzt schon wieder?“, sagte Julia, als sie das Zimmer des deliranten Halbblinden betrat. „Sie sind nicht der einzige Patient hier. Ich kann mich nicht nur um Sie kümmern. Na sagen Sie schnell, wie kann ich Ihnen helfen?“
„Endlich sind Sie da, Schwester. Ich wollte ihnen … Also die Matratze … Ich wollte Ihnen nur …“ Er verstummte, sammelte sich und nahm noch einen Anlauf. „Matratze“, war aber alles, was er herausbrachte, bevor sich nur noch sein Mund öffnete, ohne einen Laut von sich zu geben, als kaute er mühselig auf Worten wie auf zähem Gummi. Dann erstarrte das Gesicht zu einer nachdenklichen Büste. Im Spiegel seiner matten Pupillen konnte Julia mitverfolgen, wie er in seinen Gehirnwindungen hin- und herlief, verzweifelt eine Tür suchend, die er zuvor gesehen zu haben glaubte. Julia drehte sich direkt um und rannte zurück zu ihrer Verwundeten. Diese hatte sich mittlerweile beruhigt, das Nasenbluten schien gestoppt zu sein, aber auf ihrer Stirn bildeten sich dicke Schweißperlen. Sie schäumten und blubberten wie das warme Wasser auf der Oberfläche eines Whirlpools. Julia ahnte Schlimmes. Sie blickte um sich, konnte aber nirgends die Pinzette finden. Verdammt, verflucht, auch das noch! Sie musste schnell eine neue besorgen. In dem Zimmer nebenan war nirgends eine zu finden, in der 312 auch nicht. Julia durchstöberte alle Schrankschubladen und lief von Tür zu Tür. Dann erinnerte sie sich, dass sie zu Dienstbeginn noch eine Pinzette im Pflegestützpunkt auf dem Tisch neben dem Computer liegen sah. Tatsächlich, da war sie, die Rettung in vielleicht letzter Sekunde, bevor sie die Nerven verlor.
Julia musste die Pinzette eigentlich sterilisieren, aber dafür blieb jetzt keine Zeit mehr. Die Faser musste rausgezogen und die Wunde verbunden werden, bevor sich der Arzt darum kümmern konnte. Wer von ihnen war überhaupt da? Bei der Übergabe hieß es bloß, dass der ganze Dienstplan nicht mehr stimmte, wegen etlicher Ausfälle. Das totale Chaos, keiner blickte mehr durch, wer wen ersetzt oder wer mit wem getauscht hatte. Mit dem Wundexperten brauchte sie wohl auch nicht zu rechnen. Auf dem Weg zurück klingelte das Telefon. „Julia, ich habe wieder schlechte Nachrichten“, meldete sich die Koordinatorin. „Melanie fällt ebenfalls wegen Corona aus. Aber ich konnte zumindest eine Vertretung organisieren. Valerie kommt in ungefähr einer Stunde, sie beeilt sich. Bis bald, meine Liebe! Einen angenehmen Dienst!“ Ausgerechnet Valerie, ein Frischling, seit gerade einmal fünf Wochen dabei, aber immer noch besser als gar keiner.
Zurück im Patientenzimmer wischte sie der Neuen zunächst den sämigen Schweißfilm von der Stirn und bemerkte, dass die arme Frau furchtbar schlotterte. Julia erinnerte sich wieder an Arne. Wie ein Geist schwirrte er um sie herum, erpicht darauf, Angst und Schrecken zu verbreiten. Das Zimmer fing an zu kreisen wie ein Karussell. Sie musste sich am Bett festhalten, um nicht umzukippen. Irgendetwas in ihr führte die Pinzette in die dicke Wunde, aus der Julia nach einiger Mühe den blutglasierten Faden herausfischen konnte. Schlagartig fühlte sie sich, als hätte ein Aufputschmittel eingeschlagen. In wenigen Sekunden war die Wunde verbunden. In ihrem Kopf legte sie die Reihenfolge der Aufgaben fest, die jetzt unbedingt erledigt werden mussten. In der 306 wartete der Patient auf einen Verbandswechsel, gleich daneben musste noch eine Vitalzeichenkontrolle durchgeführt werden. „Schwester, Schwester“, meldete sich nun die piepsige Stimme der Bettnachbarin. Ihr nussförmiges Gesicht sah immer so putzig aus, aber in diesem Moment konnte Julia nichts mehr Süßes darin finden. In ihren Augen hatten sich die feinen Fältchen der Dame zu einer Grimasse verformt, die nichts als Abscheu hervorrief. Sie zeigte verlegen auf den prallgefüllten Kot-Beutel. Die gespitzten Brauen gaben Julia zu verstehen, dass es im Darm drückte. Sie musste ihn wechseln, bevor die Patientin vor Schmerz die Schlingen herausriss. „Ich bin sofort bei Ihnen, Frau Milner! Einen Augenblick!“ Julia wusch sich die Hände und wechselte den Beutel. Der Gestank schlug so aggressiv um sich, dass sie glaubte, das Bewusstsein zu verlieren. Sie nutzte ihre ganze Armlänge, um den Kot-Beutel so weit vor sich herzutragen, wie es nur ging. Wenige Schritte vor der Tür fühlte sie ihre rechte Sohle rollen. Der Fuß schnellte zur Seite, als stünde sie in Schlittschuhen auf Eis. Julia taumelte auf den winzigen Kapseln und konnte im Fallen noch sehen, wie der Kot-Beutel auf dem Boden zerplatzte. Sie blieb eine Weile regungslos liegen und wollte nie wieder aufstehen. Die Vorstellung, noch sieben Stunden hier verbringen zu müssen, lähmte ihre Glieder. Als sie dann den Boden wischte, musste sie mehrmals in den Korridor flüchten, um sich nicht zu übergeben. Der barbarische Gestank setzte sich in ihrer Medizinmaske fest und wollte nicht weichen. „Puh“, presste Valerie heraus, als sie die Tür öffnete. Die gasige Duftwolke ließ sie sofort wieder einen Schritt zurücktreten.
„Patientin mit Stoma“, sagte Julia und nickte zu Frau Milner rüber. „Gut, dass du kommst, Valerie. In der 304 muss noch eine Vitalzeichenkontrolle durchgeführt werden. Mach das doch bitte als Erstes, sei so gut!“
„Na klar, kein Problem. Was ist eigentlich mit ihr los?“ Valerie blickte zu der neuen Patientin. Julia war völlig entgangen, dass diese sich mittlerweile heftig schüttelte. „Hohes Fieber“, antwortete sie und schluckte schwer.
„Bestimmt Corona. Hast du sie schon getestet?“
„Ich hatte noch keine Zeit. Mache ich gleich. Los, los Valerie, die Hütte brennt.“
Nachdem die Tür sich geschlossen hatte, legte Julia der Patientin ihre Hand auf den Hals. Der Puls donnerte gegen ihre Fingerkuppen, so wild, dass sie selbst zu schwitzen anfing. Wieder spürte sie Arnes Geist direkt hinter sich schweben. Verflucht nochmal, das durfte doch nicht wahr sein! Sie wusste, was das bedeutete. Ihr blieb nicht mehr viel Zeit. Sollte sie einen Arzt rufen? Nein, es war unausweichlich. Sie dachte an ihren Sohn, dann wieder an Arne. Das Unheil würde erbarmungslos hereinbrechen, sie konnte nur noch aussuchen, welches. Julia setzte sich auf die Bettkante, um sich zu sammeln. Es war falsch, das wusste sie, moralisch völlig verwerflich, ein unverzeihlicher Verstoß gegen den Berufskodex. Aber Max hatte Vorrang. Wenn sie ihn nicht verlieren wollte, musste sie diese Entscheidung treffen.
Julia lief schnell zum Pflegestützpunkt, um ein Testkit zu holen. Im Kühlschrank stand noch eine kleine Sektflasche von dem letzten Geburtstagsumtrunk. Sie leerte sie in einem Zug und ging zurück. Die neue Patientin wickelte sich schwer atmend in die Decke ein, sodass Julia das Stäbchen nur mit viel Anstrengung in deren Nase schieben konnte. Nachdem sie die Flüssigkeit dann auf die Test-Kassette getropft hatte, wurde sie ihren marternden Gedanken überlassen. War sie ein schlechter Mensch? Würde sie je wieder in den Spiegel schauen können, jemals mit Freude zur Arbeit kommen? Was hätte Arne an ihrer Stelle gemacht, wie hätte er entschieden? Julia lief hin und her. An Arbeit war nicht zu denken. Die fünfzehn Minuten bis zum Ergebnis kamen ihr vor wie Jahre in der Einzelzelle. Dort wollte sie nicht landen, niemals, niemals. Ach Max, er musste jetzt tief und fest schlafen. Sie hatte das unstillbare Bedürfnis, ihn zu umarmen. Sie brauchte die Nähe irgendeiner Vertrauensperson, jemanden, der ihr das Gefühl gab, nicht allein zu sein. Aber sie durfte darüber mit niemandem reden, das wusste sie. Dieses Geheimnis würde sie mit ins Grab nehmen.
„So, die Vitalzeichenkontrolle ist erledigt“, meldete sich Valerie zurück, mit etwas zu viel Enthusiasmus in der Stimme. Julia schaute sie bedächtig an, konzentriert darauf, in diesem naiven Überschwang möglicherweise einen Ausweg aus ihrem Dilemma zu finden.
„Prima“, sagte sie dann. „Als nächstes bitte einen Verbandswechsel in der 306.“
„Null Problemo“, antwortete Valerie in freudigem Singsang. „Hast du mittlerweile den Test gemacht? Das sieht ja gar nicht gut aus!“ Sie schielte zur Patientin, die gerade entsetzlich schwitzte und mit den Zähnen klapperte. „Wenn sie nicht positiv ist, fresse ich einen Besen.“
Julia war froh, wieder allein zu sein. Valeries gute Laune brannte in ihrer Seelenwunde wie ätzender Fusel. Sie starrte erwartungsvoll auf die Kassette. Am T, bitte am T, bitte, bitte! Sie hätte nie gedacht, dass sie sich das je wünschen würde. Aber die Erfüllung blieb ihr versagt; der rote Balken bildete sich am C. Das Unheil spielte neckend an ihrem Ohrläppchen. Negativ, verflucht nochmal! Heute lief einfach alles schief! Julia atmete tief durch. Es musste doch eine Lösung geben. Sie hatte einmal auf Telegram ein Kurzvideo gesehen, in dem ein solcher Test mit Cola durchgeführt wurde und positiv anschlug. Kein einziger Schnitt, sie hatte es mit eigenen Augen gesehen, in Echtzeit. Mit Cola würde der Test immer positiv ausfallen, hieß es. Vielleicht sollte sie es so probieren! Im Kühlschrank stand noch eine Flasche. Sie musste den Test schnell im Pflegestützpunkt machen und rechtzeitig wieder im Zimmer sein, bevor Valerie zurückkam. Sie stürmte raus, blieb mit dem Fuß an einem der Infusionsstände hängen, stolperte. Ihre Hände zitterten, die Beine wabbelten. Im Pflegestützpunkt tropfte sie die Cola mehrmals daneben, wischte die Spritzer ab und rannte mit der Kassette zurück. Völlig aus der Puste beobachtete sie, wie am T aus kaum sichtbaren Farbschattierungen ein dicker roter Streifen entstand. Es hat tatsächlich geklappt! Für ein paar Sekunden blieb Julias Herz stehen. Genau in diesem Moment öffnete sich die Tür. „Auch das wäre erledigt“, sagte Valerie. „Ah, du hast den Test gemacht. Und?“
„Positiv“, antwortete Julia und hielt zum Beweis die Kassette in ihre Richtung.
„Ja, das war abzusehen. Die Ärmste“, sagte Valerie, während sie die bibbernde Patientin mitleidig ansah. „Sie wird es nicht mehr lange machen.“ Julia nickte stumm.
„Dieses Virus ist gnadenlos“, sagte Valerie voller Ehrfurcht. „Ich bekomme wirklich Angst.“
„Ich auch“, flüsterte Julia, stumpf in die Leere schauend. „Ich auch.“
Titelfoto: Pixabay/Rebecca Moninghoff