Doku «Speed» – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Der gesellschaftliche Alltag wird immer schnelllebiger. Obwohl neue Technologien und Effizienzmodelle Zeit eingespart haben, scheint sie dennoch ständig zu fehlen. Dieses Gefühl gab dem Filmemacher und Autor Florian Opitz den Anstoß, dieses Phänomen in einer Dokumentation zu ergründen, fragend und ergebnisorientiert. Er habe zu wenig Zeit für das, was er sich vornehme, sagt er zu Beginn, indem er als Ich-Erzähler auftritt. Diese Rolle behält er in den weiteren knapp 90 Minuten bei und spricht vor der Kamera mit vielen interessanten Menschen, um zu erfahren, wo die Ursachen dieser allgegenwärtigen Rastlosigkeit liegen und wie man mit dem ständigen Zeitmangel umgehen soll.

Das Problem der modernen Welt, das geht aus diesen Interviews hervor, besteht in der wachsenden Fülle des Angebots. Es gibt immer mehr Informationen, immer mehr Nahrungsprodukte, eine immer größere Vielfalt an kulturellen Unternehmungen und mit den neuen Medien auch immer mehr Kommunikation. Wir alle müssen ständig selektieren, um in diesem Angebotsdschungel die Orientierung zu behandeln. Wer handlungsfähig bleiben will, muss dabei auf die Tube drücken und Zeitmanagement betreiben. Doch genau darin besteht das Problem. Opitz, der zunächst von seiner eigenen Rastlosigkeit zu fragen beginnt, merkt schnell, dass die ganze Gesellschaft auf „Speed“ ist, wie bereits der Titel seiner Dokumentation andeutet.

Urbane Hektik

Bildlich stellt er diesen Zustand unter anderem mit inszenierten, verwackelten Aufnahmen dar. Der Filmemacher lässt etwa seine Smartphone-Kamera laufen, während er sich auf dem Fahrrad durch den dichten Verkehr schlängelt. Schnelligkeit und Hektik suggerieren auch diverse Sequenzen im Zeitraffer, die Opitz mit kalter Stadtästhetik verbindet, indem er oftmals Bilder von Skylines bei Nacht einblendet. In diesem Rhythmus begibt er sich schließlich auf die „Suche nach der verlorenen Zeit“, wie der Titelzusatz in Anspielung an Marcel Prousts siebenteiligen Roman heißt. Dabei trifft er unter anderem einen Zeitmanagement-Guru, der recht simple Lösungen anbietet; einen Journalisten, der digital fastet; einen Psychologen, der Tipps gibt, wie man einem Burnout zuvorkommt; und eine Unternehmensberaterin, die zu den Beschleunigern gehört. Im wirtschaftlichen Wettbewerb sei Geschwindigkeit enorm wichtig, sagte sie. Wer sich gegen die Konkurrenz durchsetzen möchte, müsse Zeit sparen.

Der Schnelle frisst den Langsamen – dieses Prinzip gilt auch in der Finanzindustrie. Wie sie funktioniert und die Schnelllebigkeit des Alltags bestimmt, veranschaulicht Opitz in einer Sequenz, die in seinem Film zu den Höhepunkten gehört. Dafür betritt er weder eine Bank noch das Parkett einer Börse, sondern eine Einrichtung, deren Verbindung zur Finanzindustrie sich auf den ersten Blick nicht erschließt: die Nachrichtenagentur Reuters. 95 Prozent ihres Umsatzes, hebt der Filmemacher hervor, gehen darauf zurück, dass sie für Investment-Akteure Daten generiert. Diese brauchen vielfältige Informationen zu politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ereignissen, um auf den jeweiligen Aktienmärkten durch Käufe oder Verkäufe schnell zu reagieren.

Entschleunigungsprojekte

Genauso wie die Finanzindustrie hat die Technik die Welt schneller gemacht. Sie bestimmt das Tempo, nicht der Mensch, stellt Opitz in der Mitte des Films fest, bevor er einen harten Schnitt macht und sich der Welt der Entschleunigung widmet. Dafür reist er teilweise Tausende von Kilometern, um wieder mit Menschen zu sprechen, die entweder aus ihrem ganz privaten Hamsterrad ausgestiegen sind oder nach gesellschaftlichen Alternativen suchen. Im Gegensatz zu der kühlen Ästhetik in der ersten Hälfte dominieren nicht mehr urbane Räume, sondern wunderschöne Landschaften mit idyllischer Atmosphäre. An solchen Orten spricht Opitz mit einem ehemaligen Investmentbanker; der in der Schweiz nun eine Berghütte bewirtschaftet und die Gegenwart bewusster genießt; mit einer Bauernfamilie, die ein ländliches Leben ohne Uhr führt; oder mit dem Leiter eines Entschleunigungsprojekts in Chile.

Ein anderes Tempo ist möglich, merkt der Filmemacher bei diesen Treffen. Allerdings hat auch die Entschleunigung einen Preis, wie sich schnell herausstellt. Der Investmentbanker kann sich auch nur in die Berge zurückziehen, weil er vorher finanziell vorgesorgt hat. Die Bauernfamilie lebt zwar im Einklang mit der Natur, arbeitet aber über zwölf Stunden am Tag. Und der Leiter des Projekts in Chile bleibt auf die technischen Hilfsmittel angewiesen, die er für die Zerstörung der Umwelt und die Rastlosigkeit verantwortlich macht. Opitz’ Film liefert daher keine befriedigenden Lösungen, beleuchtet das Thema jedoch aus verschiedenen Richtungen und zeigt sowohl negative als auch positive Facetten. Wer sich auf diese filmische Reise einlässt, wird sich immer wieder selbst begegnen – und am Ende vielleicht an der einen oder anderen Schraube drehen, um in einem gesunden Rhythmus durch das Leben zu schreiten.  

Titelbild: Screenshot

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