3. Dezember 2024

Doku «Heilige Spiele» – Filmemacher Rüdiger Sünner taucht in Bachs Gedankenwelt ein

Der Komponist Johann Sebastian Bach gilt als Jahrhundertkünstler. Mit über 1.000 Werken zählt er zu den produktivsten Köpfen seiner Zunft. Allerdings ist es nicht nur die Quantität, die ihn von anderen abhebt, sondern auch die Qualität. Allein seine 200 erhaltenen Kantaten weisen eine unglaubliche Verschiedenheit auf, obwohl er sie als Auftragsarbeiten für den allwöchentlichen Sonntagsgottesdienst komponierte. Bach schien ein Naturtalent zu sein. Auf Filmemacher Rüdiger Sünner wirkt es so, als wäre er an eine dynamische schöpferische Kraft im Universum angeschlossen gewesen. Seine Musik sei gottgleich. Mit einem Wort des Kulturphilosophen und Schriftstellers Friedrich Schlegel, so Sünner, könnten dessen Werke als „heilige Spiele“ bezeichnet werden. Unter diesem Titel ist nun sein neuer Dokumentarfilm erschienen, in dem er sich ein schärferes Bild vom Jahrhundertkünstler zu verschaffen versucht.

Trotz seines musikalischen Einflusses gilt der 1685 in Eisenach geborene Bach noch immer als Mysterium. Sünner sieht in ihm nicht nur den größten Komponisten, sondern auch den „vielleicht geheimnisvollsten“. Bekannt sind lediglich die äußeren Lebensstationen, während man über dessen religiöse Einstellungen und Gedankenwelt nur wenig weiß. In sie taucht der Filmemacher in seiner Dokumentation ein, indem er Bachs Spuren an Originalschauplätzen folgt. Gleich in der ersten Szene gibt sich Sünner als Fan zu erkennen. Auf einer Flöte spielt er ein Bachstück und fungiert zugleich als Erzähler, der seine Faszination für den Künstler beschreibt. Für ihn löste kaum eine Musik so viele Gefühle von Innigkeit, Trost, Lebenslust und mystischer Tief aus. Solche reflektierten Deutungen machen Sünners Dokumentationen aus. Er bedient sich einer essayistischen Filmsprache, die sich dem Gegenstand gleichsam meditativ aus verschiedenen Richtungen nähert, um ihn schließlich analytisch zu durchdringen.

Spektakuläre Naturaufnahmen und Stimmungsbilder

Wie schon in seinen Porträts zu C.G. Jung, Rainer Maria Rilke oder Joseph Beuys bedient sich Sünner eines großen Arsenals an Stilmitteln. Er arbeitet mit nachgestellten Szenen und Stimmungsbildern, mit Interviews und Zitaten, mit gefilmten Alltagsszenen, spektakulären Naturaufnahmen und musikalischer Untermalung. Für Letztere eigneten sie keine besseren Werke als die des Meisters selbst. Um hohe Lizenskosten zu umgehen, ließ der Filmemacher Bachs Stücke von talentierten Musikern spielen, die im Film unter anderem vor der Kamera performen. So entsteht eine authentische Atmosphäre, die Sünner mit einzigartigen Bildern zusätzlich verstärkt. Dafür hat er sich an Bach-Orte begeben, die noch immer ein starke historische Aura haben, so wie der Alte Friedhof in Eisenach etwa, wo die Eltern des Künstlers begraben liegen; oder die Reste der Klosterschule, wo der Komponist als Kind unterrichtet wurde.

Filmemacher Rüdiger Sünner auf dem Bach-Wanderweg

Neben dem biografischen Werdegang wird überdies Bachs Charakter beschrieben. Der Künstler konnte aufbrausend sein, was sich nicht nur in seinen Werken zeigt, sondern auch in den Auseinandersetzungen mit Gleichaltrigen oder der Obrigkeit. Üppigem Essen war er genauso wenig abgeneigt wie anderen sinnlichen Gelüsten. Er konnte aber auch zu geistigen Höhen aufsteigen und enorme Willenskraft mobilisieren. Davon zeugt seine Winterwanderung im Jahr 1705, die im Film zu den eindrücklichsten Stellen zählt. Der 20-jährige Bach war damals von Arnstadt nach Lübeck gelaufen, um dort sein Vorbild Dietrich Buxtehude an der Orgel der Marienkirche spielen zu hören. 14 Tage soll der junge Musiker gewandert sein, teilweise durch den ersten Schnee, der gefallen war. Am Ende dauerte der Aufenthalt etwas länger als geplant und brachte Bach zu Hause Ärger ein, nachdem er die gleiche Strecke noch einmal zurückgelaufen war.

In Method-Acting-Manier

Dieses Unternehmen des jungen Musikers hat auf Sünner einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Wie müsse ein Charakter beschaffen sein, um solche Strapazen auf sich zu nehmen, fragt sich der Filmemacher in der Dokumentation. Anfangs habe er sich nur auf diese Winterreise konzentrieren und sie mit der Kamera nachgehen wollen. Doch später sei ihm klar geworden, dass diese Beschränkung Bachs Vielschichtigkeit nicht gerecht werde. So baute er diese Episode in ein größeres Bild ein, das als fertiges Produkt nicht nur ästhetisch, sondern auch inhaltlich überzeugt. Sünner gelingt es, ein facettenreiches Portrait eines Ausnahmekünstlers zu zeichnen. Bach wirkt am Ende gar nicht mehr so geheimnisvoll, wie er anfangs eingeführt wird. Die Zuschauer tauchen in sein Seelenleben ein und erfahren, was den Komponisten im Kern ausmachte, was ihn bewegte und welches Gottesbild er wohl hatte.

Mit «Heilige Spiele» hat Sünner selber ein Meisterwerk geschaffen, in dem er nicht nur hinter, sondern auch vor der Kamera Großes leistet. Immer wieder setzt sich der Filmemacher selber in Szene, um die Erforschung seines Idols quasi in ihrem Prozess festzuhalten. An den jeweiligen Wirkstätten sieht man Sünner daher fast schon wie einen Method Actor sich in Bachs Welt hineinfühlen und hineindenken. Er läuft einen Teil der Wanderstrecke, ist deftige Gerichte, atmet die Aura der Umgebung ein und gibt seine Erkenntnisse in einer Sprache wieder, die bisweilen poetisch daherkommt. Dieser Herangehensweise ist es zu verdanken, dass die Zuschauer im Film die Qualitäten gleich zweier Künstler bestaunen können.

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