«Die große Inflation» – Interessantes Buch über die Geldentwertung vor genau 100 Jahren

Die Verbraucherpreise in Deutschland steigen kontinuierlich. Im März soll die Inflation bei über sieben Prozent gelegen haben. Droht der Bundesrepublik eine ähnliche Situation wie dem Weimarer Äquivalent in den Jahren 1922/23? Überschneidungen gibt es durchaus – sowohl in gesellschaftlichs- als auch in fiskalpolitischer Hinsicht. Wie damals zeichnet sich der Alltag heute durch soziale Umwälzungen aus, obgleich in abgeschwächter Form. Die Demokratie wird immer schwächer. Die gesellschaftliche Spaltung schreitet vorn. Und der Staat greift wieder tief in die Tasche, um die vielen wirtschaftlichen Ausfälle durch die Corona-Maßnahmen auszugleichen. Eine große Inflation wie 1922/23 sei dennoch unwahrscheinlich. Diese Meinung vertritt zumindest Georg von Wallwitz, der in seinem neuen Buch jene Ereignisse rekapituliert.

Es sei eher eine Kombination verschiedener Faktoren, die aus einer schleichenden Inflation eine galoppierende machen. Besonders fatal wirke sich ein plötzlicher Vertrauensverlust aus, „etwa in die Fähigkeit des Staates, seine Schulden zu bedienen und die Kaufkraft der Währung zu schützen.“ Die Staatsverschuldung spiele keine Rolle, solange die Kreditgeber glauben, dass der Staat seine Schulden in gutem Geld bedienen kann. Ab wann sie ein Problem werde, lasse sich nicht ausmachen, weil sich das von Regierung zu Regierung ändere – oder von Land zu Land. „Aber wenn das Vertrauen einmal weg ist“, schreibt der Autor, „dann geht alles sehr schnell, dann tritt ein Ketch-up-Flaschen-Effekt ein.“

Der Autor führt die Leser durch das Dickicht der jungen Weimarer Republik. Er geht auf die Kinderkrankheiten der ersten deutschen Demokratie ein, betrachtet die damalige Hyperinflation aus verschiedenen Blickwinkeln und erläutert sie im Kontext des ersten Weltkrieges. «Die große Inflation» liest sich daher weniger ein Wirtschaftsbuch als ein geschichtliches Werk, in dem die Zusammenhänge im Vordergrund stehen. Wallwitz macht es sehr geschickt, indem er auf Zahlen und ökonomische Begriff größtenteils verzichtet und stattdessen das Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung akzentuiert. War zum Beispiel die exorbitante Staatsverschuldung dafür verantwortlich, dass die Preise 1922 in die Höhe gingen? Nein, sagt Wallwitz. Eine hohe Staatsverschuldung sei eine wichtige Bedingung für eine Inflation, aber keine hinreichende. Gleiches gelte für eine stark wachsende Geldmenge und schlecht funktionierende Staatsinstitutionen.

In solchen Zeilen zeigt sich Wallwitz’ Hang, seine Ausführungen nicht nur mit Fakten anzureichern, sondern sie auch unterhaltsam zu darzulegen. Sein Buch enthält durchaus dramaturgische Elemente, die vor allem dann zum Tragen kommen, wenn geschichtliche Personen auftreten. Prominent vertreten sind vor allem die beiden Industriellen Hugo Stinnes und Walther Rathenau. Der eine wie der andere hat in der Nachkriegszeit eine steile Karriere hingelegt, wurde zum Politiker und fiel genauso tief, wie er zuvor aufgestiegen war. Beide Persönlichkeiten fungieren als tragische Figuren, die sich in der Zeit der großen Inflation die Finger verbrannten. Die frühen 1920er Jahre verlangten den Menschen extrem viel ab. Sie glichen einem Dschungel, in dem nur die Gewitzten und Skrupellosesten sich einen Vorteil verschaffen konnten – ein Eldorado für Spekulanten und Abenteurer, denen in dem Buch ebenfalls viel Platz gewidmet wird.

Wallwitz erzählt die Irren und Wirren dieser Zeit mit großer Eloquenz, elegant und so verständlich, dass man kein Ökonom sein muss, um in dem Gestrüpp aus politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ereignissen den Überblick zu behalten. Es macht durchaus Freude, seinen Ausführungen zu folgen, zumal sie immer wieder zu neuen Erkenntnissen führen. Die wohl wichtigste lautet: „Die Inflation, die in den kommenden Jahren auf die Weltwirtschaft zukommen könnte, hätte dennoch keine große Ähnlichkeit mit der Entwicklung nach dem ersten Weltkrieg. Eine Reihe der damals wichtigen Treiber fehlt heute.“

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