23. November 2024

«Schachnovellen» – Eine literarische Spurensuche in Europas Städten

Als Stefan Zweig zwischen 1938 und 1941 im brasilianischen Exil seine «Schachnovelle» schrieb, wusste er noch nicht, dass es sein letztes und zugleich bekanntestes Werk werden würde. Bis heute gilt es als Literatur-Klassiker, der auf andere Schriftsteller inspirierend wirkt. Wie damals Stefan Zweig nutzt nun knapp 80 Jahre später der spanische Autor Vicente Valero das strategische Brettspiel als MacGuffin – dieses Mal um in vier Geschichten die Lebenslinien von fünf Geistesgrößen nachzuzeichnen.

Im Mittelpunkt seiner «Schachnovellen» steht ein Erzähler, der sich jedes Mal auf eine Reise in eine europäische Stadt begibt. Als passionierter Schachspieler frönt er auch dort seinem Lieblingssport und lernt auf diese Weise interessante Menschen kennen. Die Gespräche und Beobachtungen führen schließlich dazu, dass er sich zu einer Spurensuche nach Orten und Plätzen aufschwingt, an denen jene Geistesgrößen mal gewirkt haben. Als Metapher für diese Detektivarbeit verwendet er gerne einen berühmten Schachspruch, der in jeder der Geschichten motivartig die Stoßrichtung vorgibt: „Es ist und bleibt ein Geheimnis, wohin eine Partie einen führen kann.“

In Svendborg in Dänemark spürt der Erzähler einem Spiel zwischen dem Dramatiker Bertolt Brecht und dem Kulturphilosophen Walter Benjamin nach, indem er ein aus jenem Sommer 1934 stammendes Foto analysiert. Die zweite Reise führt nach Turin, wo eine Partie zwischen einem älteren Ehepaar Assoziationen zu Friedrich Nietzsche und dessen Aufenthalt in der italienischen Stadt freisetzt. In Augsburg lässt er sich von einem Regisseur nach München locken und beschäftig sich dort intensiv mit Franz Kafka, der in der bayerischen Stadt 1916 seine Erzählung «In der Strafkolonie» vortrug. Der letzte Aufbruch endet schließlich in Berg am Irchel bei Zürich, wo sich der Lyriker Rainer Maria Rilke 1920/21 zurückzog, um sein Hauptwerk «Duineser Elegien» niederzuschreiben.

Einem ruhigen Wasserfluss gleich bewegen sich diese Darstellungen von Ort zu Ort, machen Halt bei stationären Beschreibungen, versinken in Reflexionen und machen schnell deutlich, dass es sich weniger um Novellen als um Erzählungen handelt. Die jeweilige Handlung ist eher episch als dramatisch aufgebaut, schreitet langsam voran und verläuft in mehrere Stränge. Diese gehen sogar über die jeweilige Erzählung hinaus und finden ihre Fortsetzung in einer anderen.

In den verschachtelten, aber eleganten Sätzen manifestiert sich auf diese Weise ein kunstvolles Werk, das sich aus Reisebeschreibungen, Schriftsteller-Porträts, Essay-Passagen und geistreichen Überlegungen wie dieser zusammensetzt: „Millionen Menschen spielen Tag für Tag nach der Arbeit Schach, aber nicht nur, um die ungerechte und unverständliche Welt, die sie ablehnen, zu vergessen, sie haben es auch darauf abgesehen, eine Fiktion mit Leben zu erfüllen, die für sie an die Stelle der wirklichen Welt treffen.“ Schöner kann man das Schachspiel kaum beschreiben.

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