23. November 2024

«Endspiel Europa» – Kluger Essay zur Verfallsgeschichte eines vielversprechenden Projekts

«Endspiel Europa»: Der Titel des gemeinsamen Buches der Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot und des Philosophen Hauke Ritz klingt wie eine Hiobsbotschaft. Mit dem Endspiel ist der Ukraine-Krieg gemeint, den die beiden Autoren zum Ausgangspunkt nehmen, um zu zeigen, wie weit sich Europa nach anfänglicher Euphorie von seinen Wertvorstellungen entfernt hat. Europa – das war nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ein Projekt mit dem Ziel der Friedensstiftung. „Einheit in Vielfalt“, ruft das Duo in Erinnerung, „internationale Kooperation und föderale Friedensordnung“ gehörten zu seinen Grundpfeilern.

Dass diese Vorstellungen der Vergangenheit angehören, lässt sich bereits an so manchen Äußerungen profilierter EU-Politiker erkennen. Sie sprechen davon, dass „Kriegsmüdigkeit“ ein „moralisches Vergehen“ sei, oder zeigen sich bereit, den ‚nuclear button“ zu drücken. Guérot und Ritz zitieren unter anderem die deutsche Außenministerin Annalena Barbock oder die ehemalige britische Premierministerin Liz Truss, um zu demonstrieren, dass die derzeitige Agenda „nicht die Verteidigung, sondern die selbstvergessene Negation europäischer Werte“ darstellt. Wie konnte es dazu kommen? Die Autoren zeichnen diesen Verfall in einem essayartigen Text nach, der so prägnant wie scharfsinnig die wichtigsten Ereignisse beleuchtet. Dabei wird, wie das Duo gleich zu Beginn unterstreicht, das in den Medien vorherrschende Narrativ eines ausschließlich von Russland begonnenen Krieges gegen den Strich gebürstet: „Wir betten es ein in den historischen Kontext seit 1989 und belegen mit vielen Quellen, dass dieser Krieg nicht am 24.  Februar 2022 begann und die Motive für diesen Krieg nicht nur in Moskau zu suchen sind.“

Der chronologische Verlauf beginnt mit der Einigung zwischen dem damaligen sowjetischen Staatspräsidenten Michail Gorbatschow und dem Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl, die damit das europäische Friedensprojekt in Gang setzten. Viele Hoffnungen wurden daran geknüpft; es wurde viel von Versöhnung und Freundschaft gesprochen, immer mit der Intention, die Trennung Europas zu überwinden. Doch die USA hatte eigene Pläne, wie das Autoren-Duo überzeugend herausarbeitet: „Sie verstanden den Mauerfall und das Ende des Kalten Krieges nicht als eine Einigung Deutschlands und Europas, sondern als Sieg ihres Imperiums über den einzigen ebenbürtigen Konkurrenten, die Sowjetunion.“

Von langer Hand vorbereitet

Die alleinige Supermacht habe sich zum Weltpolizisten aufgeschwungen und muss sich wegen seines imperialen Hungers in Guérots und Ritz’ Essay viel Kritik gefallen lassen. Nicht weil sie „antiamerikanistisch“ seien, wie sie gleich zu Beginn ihren Kritikern den Wind aus den Segeln nehmen; und auch nicht weil sie sich als „Putinversteher“ verstünden, sondern weil aus amerikanischen Quellen hervorgehe, „dass der russisch-ukrainische Krieg ein lang vorbereiteter amerikanischer Stellvertreterkrieg ist, eine Apotheose jahrzehntelanger amerikanischer Geostrategie, deren eigentliches Ziel die Verfestigung der amerikanischen Dominanz in Europa ist.“ Anhand dieser Dokumente zeichnen sie die Schachzüge der Supermacht nach und weben sie in die entscheidenden Ereignisse rund um die Europäische Union ein, die um immer mehr Nationalstaaten ergänzt wurde, um die Nationalstaatlichkeit zu überwinden. Es sollte ein eigenständiges politisches Gebilde entstehen, das auf der Weltbühne souverän auftritt.  

Ulrike Guérot / Foto: Westend Verlag

Dass die EU zunehmend aus den Augen verlor, was sie als politisches Projekt werden wollte, und seit der Jahrtausendwende keine Chance mehr hatte, zeigen Guérot und Ritz anhand der Querelen rund um die Verfassung, den Maastrichter Vertrag, die Währungsunion oder um die Finanzkrise, die schließlich in eine Euro-Krise mündete. Am deutlichsten, so die Autoren, zeige sich der Verfall in der medialen Berichterstattung über den Ukraine-Krieg, in der ein Nationalstaat verteidigt wird, obwohl dieses Modell als obsolet galt. Die Gründe für das Scheitern sieht das Duo in der zu großen Abhängigkeit von den USA, die es mit Geschick geschafft habe, die EU und Russland gegeneinander auszuspielen.

Kritik auch an Russland

Die im Essay beschriebenen geostrategischen Winkelzüge gehören zu den Höhepunkten der Lektüre, in deren Verlauf sich viel über Machtpolitik lernen lässt. Guérot und Ritz legen das offen, was in den Leitmedien gerne unter den Teppich gekehrt wird. Sie zeigen den Einfluss der PR im Jugoslawienkrieg, analysieren die Techniken, mit denen die Supermacht heutzutage Staatsstreiche organisiert, und benennen deren Strategie, die der ehemalige Busch-Berater Paul Wolfowitz einst so formulierte: „Wir sind bestrebt, jede feindliche Macht daran zu hindern, eine Region zu beherrschen, deren Ressourcen unter konsolidierte Kontrolle ausreichen würden, globale Macht zu erzeugen.“

Hauke Ritz / Foto: Westend Verlag

Das heißt aber nicht, dass Russlands Verfehlungen unerwähnt bleiben. Dessen autoritäre Politik wird genauso kritisiert wie die zu liberale Wirtschaftsordnung im Land, die „über die Jahre zu steigender sozialer Ungleichheit geführt hat, weit größer als in den meisten EU-Staaten“. Als mangelhaft bezeichnen Guérot und Ritz auch die Situation in den russischen Gefängnissen, die nicht den europäischen Standards entspreche und dazu führe, dass viele Häftlinge nach ihrer Entlassung erneut straffällig werden. „Schließlich sind die Renten viel zu niedrig“, schließen sie ihre Kritik ab, „und reichen oft zum Leben nicht.“

Lösungsvorschläge

Nach drei Kapiteln der europäischen Verfallsgeschichte widmen sich die Verfasser den Aufgaben, die ihrer Meinung nach nun anstünden, um die Entwicklung wieder umzukehren. «Warum das politische Projekt Europa gescheitert ist – und wie wir wieder davon träumen können» lautet der Untertitel des Buches. Diesem Motto folgend, formulieren Guérot und Ritz, was jetzt zu tun wäre: „sich mit all seinem politischen Gewicht, flankiert von UNO und OSZE, für einen sofortigen Waffenstillstand auszusprechen und Friedensverhandlungen anzuberaumen.“ Der Friedensschluss für die Ukraine sei nur ein wichtiger Punkt. Einen anderen stelle die Ausarbeitung einer europäischen „Grand Strategy“ dar, eines neuen, großen Entwurfs für Europa im 21. Jahrhundert. Die USA sollten von diesen Verhandlungen jedoch ausgeschlossen werden. Europa müsse die nationalstaatliche Souveränität infrage stellen und über europäische Souveränität diskutieren.  

In diesem Schlusskapitel wird ein Plädoyer für eine soziale und rechtliche Gleichheit gehalten, für eine föderale europäische Staatlichkeit und Kooperation mit Russland. Angedacht ist auch ein Austritt aus der NATO, der es ermöglichen würde, ein neues Friedensprojekt zu konzipieren. Diese Ausführungen enthalten nicht mehr die analytische Schärfe der vorherigen Seiten und versprühen ein wenig zu viel Idealismus, der angesichts der gegenwärtigen Situation sicherlich notwendig ist, aber auch ein wenig naiv wirkt. Aber Aufgeben ist keine Option, weshalb Guérots und Ritz’ Essay einen wichtigen Beitrag zur Aufklärung und Völkerverständigung leistet. Er legt nicht nur den Finger in die Wunde, sondern präsentiert auch Ideen, auf denen aufgebaut werden kann, um eine sachliche Diskussion zu führen und die Dinge auf dem europäischen Kontinent ganz neu zu denken.

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